Final Countdown im Lodenjanker

Sorokin, Riefenstahl und Laibach: Gestern ging das Fest III im Festspielhaus Hellerau in Dresden zu Ende – ein spartenübergreifendes Performance-Treffen zum Thema Ästhetik und Gewalt am historisch passenden Ort  ■ Von Petra Kohse

Das Festspielhaus Hellerau wird gerne aus der Froschperspektive fotografiert. Entlang der breiten Treppe und den sechs Säulen des Portikus gleitet der Blick über die Spitze der dreieckigen Stirnseite dann unweigerlich in den Himmel, die Anbauten des Haupttraktes rechts und links werden umstandslos als Seitenschiffe akzeptiert. Ein antikisch anmutendes Monument, schlicht und tatsächlich ergreifend in seinem funktionalen Donner.

Mit diesem Bau von 1911 gilt Heinrich Tessenow als geistiger Vater des Bauhauses. Als Kulturzentrum des ganzheitlich-reformerischen Projekts „Leben und Arbeiten in der Gartenstadt“ Dresdens konzipiert, wurde das Festspielhaus unter anderem zur Geburtsstätte von Jacques Dalcrozes Schule für Rhythmische Gymnastik. Doch auch bei der späteren und noch späteren Nutzung verlor das Gebäude seinen repräsentativen Charakter nicht: In den dreißiger Jahren zog die SA hier ein, 1945 kam die sowjetische Armee.

Die ästhetische Kompatibilität ist bemerkenswert, und daß auch heutige Fotografen vor dem Gebäude noch in die Knie gehen, zeigt die Lust, sie intakt zu halten. Denn steht man bei Tageslicht direkt davor, wirkt das Festspielhaus Hellerau gemessen an seinen Abbildern geradezu schmalbrüstig.

Seit Februar dieses Jahres hat ein Verein nun endlich das – wenn auch nur vorläufige – Nutzrecht des Geländes: der schon 1990 gegründete „Förderverein für die europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau“, dessen Vorsitzender der Theaterwissenschaftler Detlev Schneider ist. Die kontinentale Allgemeinheit des Namens ist sachdienlich, denn so können Gelder der unterschiedlichsten Stiftungen, Vereine und sonstiger Gremien problemlos eingespeist werden. Und Geld hat der Hellerau e.V. dringend nötig: bisher konnte (dank der Deutschen Stiftung Denkmalschutz) gerade mal das Dach des Haupthauses mit Planen regendicht gemacht werden, der Rest rottet so vor sich hin.

In Zusammenarbeit mit Transversal, einem (ebenfalls europäischen) Forum „für eine Europäische Kultur der Geste zwischen Kunst und Alltag“ fand nun vom 29. September bis zum Einheitsmontag das Fest III in Hellerau statt, die dritte Aktion des Vereins, die sich ausdrücklich auf die Geschichte des Ortes bezog.

Rund 15 Veranstaltungen aller künstlerischen Genres zum Thema „Gewalt und Ästhetik“ fanden statt, und zwischendurch konnte man in der ständigen Ausstellung umherstreifen: in den verlassenen Zimmern der sowjetischen Armee. Waschräume von erbärmlichem Standard, Holzdielen, die die Feuchtigkeit zu mittleren Massiven aufgeworfen hat, gemauerte Kaminattrappen und fast überall papiergewordene Herbstwälder oder Gebirgsseen an den mit kleinteiligen, blassen Mustern überzogenen Wänden – Reste einer tapezierbaren Gemütlichkeit und ironische Hinweise auf den Versuch, das jeweilige Schlafgehäuse mit kollektiven Mitteln zu individualisieren.

Zum Fest III eingeladen waren unter anderen Performances von Roman Signer aus der Schweiz, der deutsch-peruanischen Gruppe Chaclacayo und des slowenischen Gleij Theaters. Vieles hatte eher beiläufigen Charakter oder war für sich genommen nicht allzu ergiebig wie – erwartungsgemäß – das Gespräch über Kunst und Propaganda zwischen George Tabori und Hans Jürgen Syberberg, das nach der Vorführung von Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm „Triumph des Willens“ angesetzt war. Aber die Veranstaltungen kommentierten sich gegenseitig und konzertierten sich so, zaghaft, aber eben doch, zu Variationen der Frage wie sich Gewalt in der Kunst darstellen läßt, ohne sie einfach zu wiederholen oder ihr gar anheimzufallen. In diesen Kontext paßte das Konzert der slowenischen Band Laibach ganz ausgezeichnet. Merkwürdigerweise provozierte der dumpf-donnernde Industrial Rock der sich wie Abziehbilder einer völkischen SF-Animation gerierenden Konsolen-Musiker vor der Kulisse des Festspielhauses weder Ablehnung noch Zustimmung, obwohl nicht wenige Anwesende mit Kürzesthaarschnitt und Lodenjanker recht affirmativ gekleidet waren. Die 1.200 ZuhörerInnen nahmen die Musik und die abschließende kulturpessimistische Proklamation über den „Final Countdown“ hin wie eine Nachrichtensendung und gingen dann nach Hause.

Mit genau diesem Rezeptionsverhalten spielte die Hauptveranstaltung des Festivals, die am Samstagabend Premiere hatte: Vladimir Sorokins „Ein Monat in Dachau“ in der Inszenierung von Carsten Ludwig – eine Eigenproduktion des Vereins, als dessen künstlerischer Kopf der 43jährige Regisseur zu sehen ist. Zu DDR- Zeiten als Assistent am Staatsschauspiel Dresden weitgehend kaltgestellt, beschäftigt sich Ludwig nun schon das dritte Jahr mit den Texten des Russen Sorokin. 1992 inszenierte er die „Schlange“ am Kleinen Haus, 1993 als Produktion des Hellerau e.V. Erzählungen aus dem „Obelisk“.

Sorokins Soz-Art, diese Enttarnung von Absurdität und Bodenlosigkeit des Alltags durch die Montage von klassischen sowjetischen Erzählformen und perversen Gewalt- oder Fäkalienelementen, übersetzte Ludwig bisher brillant monumental und zugleich umwerfend komisch mit Sprecher-Kollektiven in eine radikal antirealistische Theatersprache. Daß dies auch mit dem neuesten Text funktionieren würde, war nicht unbedingt vorherzusehen gewesen. Denn ein „Ein Monat in Dachau“ (1992) ist eine Reisebeschreibung, deren Inhalt die Grenze der Darstellbarkeit überschreitet: Die Reise führt von Moskau nach Dachau und dort durch 26 Zellen, in denen sich der Erzähler entsetzlichen Folterungen aussetzt.

Als Peinigerin fungiert ein weibliches Doppelwesen, mit den beziehungsreichen Namen Margarethe/Gretchen, und was die Vorgänge selbst betrifft, so ist vielleicht die Analpenetration durch einen Schäferhund mit anschließender Mastkur bei verpropftem Darm als ein Höhepunkt zu nennen. Nachdem das Opfer alles unterschrieben hat, was ihm vorgelegt wurde, darf es sich über dem Sarg seiner Mutter und auf deren Bildnis entleeren.

Beim abgründigen Happy-End, der Vermählung des Opfers mit der Folterin, nimmt Sorokin textliche Zuflucht im Ornament: eine pervertierte Litanei ist im Buch pyramidal gesetzt. In der deutschen Übersetzung von Peter Urban schließlich sind einige Worte und Passagen gar in kyrillischen Buchstaben geschrieben.

Ludwig behandelt diese Geschichte nun einfach genau so wie die früheren Sorokin-Bücher. Obwohl diesmal die Bezugsebene der Trivialität fast völlig fehlt, baut der Regisseur diese Elemente zum Theatermantel für den gesamten Text aus. Die Entwicklung des Autors weg von Soz-Art wird dadurch ignoriert, aber der Text wird spielbar, die anklägerisch-moralisierende Tendenz des ungebrochenen Extremismus gemildert.

Allerdings ist Carsten Ludwig nicht ganz konsequent: Die Schäferhund-Szene wird via Bildschirm eben doch pur markiert, andere Stellen sind – jetzt eigentlich unnötigerweise – gekürzt und entschärft. Dennoch überzeugt diese Theateradaption als Panorama der Perversität des Banalen.

Ein Fackelzug führt das Publikum vom Marktplatz an einen See, dann weiter ins „Lager“: das Festspielhaus. Zwischendurch begegnet einem ein Trupp BDM-Mädchen, die vom schönen Westerwald singen. Die Einleitung Sorokins, die im Stil einer traditionellen Reisebeschreibung geschrieben ist, wird ins Völkische transponiert, während die Zellen in Dachau als Spielräume ganz normaler gesellschaftlicher Situationen gezeigt werden.

Das reicht von der Butterfahrt über das Hotel- und Schlafzimmer bis hin zur Hochzeitsfeier. So sieht man komische Boulevardhandlungen, aber statt der passenden Plattitüden wird, mit strahlendem Lächeln, Sorokins Text vorgetragen. Der allerdings ist zusätzlich so verfremdet, daß er zuweilen doch wieder in Versatzstücke beliebiger Konversationen zu zerfallen scheint – ein vertracktes Spiel mit der Text-Bild-Schere.

Daß das in Kleidung und Alter programmatisch inhomogene Ensemble aus vielen Laien besteht, stört teilweise, wirkt jedoch auch oft bedrückend normal. Wie hier Sprache seziert wird, ist in jedem Fall großartig. Ohne Chorführung sprechen weit über 20 Beteiligte wie aus einem Mund. Oder wie eine Person mit weit über 20 Mündern. Ein Subjekt gibt es nicht. Drei beginnen einen Satz, sieben andere bringen ihn zu Ende. Satzfetzen bleiben übrig und verselbständigen sich zu eigenen Geschichten. Aus der Feststelllung „Sie schlug mir auf die Brust“ wird ein freudiger Bericht: „Sie schlug“ und ein erregter Appell: „Mir auf die Brust!“ Sado-Masochismus als Kinderspiel.

Ludwig führt Faschismus vor, und er zeigt am Ende dessen symbolische Vermählung mit dem (russischen) Intellekt im Geiste des Warenkorbs. Eine Frau im Nazimantel und ein Mann in sowjetischer Uniform blicken auf eine nagelneue Einbauküchenzeile wie in einen Schminkspiegel, dessen Lämpchen dann auch noch lustig zu blinken beginnen.

Vergleichbar, wenn jedoch auch mit wesentlich schlichteren Mitteln, funktioniert eine Installation von Laura Leigh Bruce nebenan auf dem Dachboden des rechten Kasernentrakts in Hellerau, der mit der Ausstellung „Einschritte“ erstmals öffentlich zugänglich gemacht wurde. Von Tonband singt eine kindlich-zarte Frauenstimme „Love is like a butterfly“, während in der Mitte des rosa gestrichenen Raumes ein Dummy, bestückt mit Schmetterlingen, auf einem Teppich gelber Blüten sitzt.

Ein friedliches Arrangement, das das Harmoniestreben der Betrachtenden auf das angenehmste zu befriedigen – scheint. Denn eigentlich zu sehen sind: abgerissene Blumenköpfe, in deren Mitte eine Kinderattrappe sitzt, in der tote, aufgespießte Schmetterlinge stecken.

Dalcroze, SA und Sowjetarmee – der Verein Hellerau reagierte mit seinem Fest III auf die Geschichte des Festspielhauses mit dem Versuch, im Rhythmus den Gleichschritt erkennbar zu machen. Die Zeit der Vogelperspektive scheint anzubrechen.