Die Choreographie der Angst

■ Im Infektionskrankenhaus von Delhi werden Kranke mit Verdacht auf Pest untersucht / Furcht der Patienten und Unerfahrenheit der Ärzte

Delhi (taz) – „Kingsway Camp“ lautet die stolze Adresse des Spitals für Infektionskrankheiten in Delhi. Der Name erinnert an die Kolonialzeit, als der britische Kronprinz dort die Huldigungen der indischen Maharadschas entgegennahm. Heute dient die ausgedehnte Parkanlage den Behörden der Hauptstadt dazu, sich die Menschen vom Leib zu halten: Ein schäbiger Rohbau beherbergt die Tuberkulosekranken, und noch mehr im Grün versteckt liegen die Bungalows des „Infectious Diseases Hospital“ (IDH) für Patienten mit ansteckenden Krankheiten. Doch selbst dieser Grüngürtel gibt den Anwohnern kein Gefühl der Sicherheit. Je mehr man sich diesem Stadtteil nähert, desto häufiger begegnet man Menschen mit Tüchern vor den Gesichtern, und die Luft ist gefüllt vom Rauch brennender Kehrichthalden.

Die beste Quarantäne scheint die Angst zu sein. Der Preis von Taschentüchern hat sich vervierfacht, und Gesichtsmasken sind nicht mehr erhältlich. Mehrere Läden vor der Zufahrt zur Spitalanlage haben dichtgemacht, und die Polizeiwachen davor sind dafür da, Patienten an der Flucht zu hindern. Doch warum fliehen, wo das IDH doch die einzig spezialisierte Institution der Hauptstadt ist? Von den bisher 370 eingelieferten „Pestverdächtigen“ leiden nur 25 tatsächlich an dieser Krankheit. 72 Patienten konnten entlassen werden, weil ihre Untersuchung einen negativen Befund ergab. Der Rest wartet verängstigt auf die Resultate des Serum-Tests aus dem nahen „National Institute of Communicable Diseases“ (NICD). Nur dieses Institut und ein weiteres in Bombay können die Tests durchführen. Es gibt fast 5.000 Verdachtsfälle, doch hier können täglich nur 125 Blutkulturen angelegt werden – die Hälfte der eintreffenden Proben.

Aber die Ärzte von Delhi fahren fort, jeden Fieberkranken ins IDH zu schicken, ob er nun Malaria oder eine Grippe hat. Sie fürchten, einen Infizierten irrtümlich zu übersehen. Und so droht das Spital selbst zu einem Infektionsherd zu werden: Familienangehörige gehen ein und aus, Gesichtsmasken werden keine mehr abgegeben. Ein Mitglied der Ärztevereinigung nannte das IDH bereits ein „Mini- Surat“ in Anspielung auf die Stadt, in der die Pest zuerst ausgebrochen war. Die Angst geht um: Die meisten Patienten sind überzeugt, daß sie keine Pest haben – und verdächtigen gleichzeitig alle anderen. Soweit es das Fieber ihnen erlaubt, verlassen sie daher die überfüllten Krankenstationen, wo die Betten immer enger aneinandergeschoben werden. Sie setzen sich im weiten Gelände irgendwo ins Gras.

Es ist ein ständiges Niedersetzen, Aufstehen und Weitergehen von vermummten Gestalten, ein Ballett in Zeitlupentempo, dessen Choreographie von Angst und Hoffnung, von Zurückweisung und Zurückgewiesensein geleitet wird. Nur jene, die als Pestfälle bestätigt sind, können bei all diesem Hin und Her ruhig sitzenbleiben.

Babu Lal ist einer dieser ruhenden Pole, um die sich alles bewegt. Das Spitalpersonal muß auch nicht achtgeben, daß er entweicht. Denn es geht ihm ja bereits besser, und wohin sollte er schon fliehen? Seine Heimat ist Bihar, das Armenhaus Indiens, und Geld hat er keins mehr. Auch Babu Lal kam aus Surat. Doch als er am 25. September auf seinem Weg nach Hause in Delhi den Zug wechseln wollte, fiel sein Keuchhusten der Gesundheitspolizei auf, die inzwischen auf allen Bahnhöfen und Busstationen postiert war. Die Diagnose drei Tage später lautete auf Lungenpest.

Babu Lal ist einer vielen Wanderarbeiter, welche die Hoffnung auf Beschäftigung in die reiche Seiden- und Diamantenstadt an der indischen Westküste gezogen hatte. Eine Woche zuvor, sagt er, begannen in seiner Umgebung plötzlich Menschen zu sterben. Zuerst dachte er, es sei Cholera, weil die Monsunregen die Umgebung unter Wasser gesetzt hatten und überall Tierkadaver herumlagen. „In der Nacht vom 21. September hörte ich, daß das Leitungswasser vergiftet sei. Am andern Morgen verließen viele Leute die Stadt. Ich bekam Angst und beschloß, auch nach Hause zu fahren.“

Die ersten Pestfälle im Spital kamen alle aus Surat. Kanwari Lal war einer der wenigen Einwohner der Hauptstadt, die bereits früh unter Pestverdacht eingeliefert wurden. Er sitzt in gebührender Distanz zu Babu Lal im Gras, denn er ist zuversichtlich, daß er irgendeine andere Krankheit aufgelesen hat. Er arbeitet als Kuli im „Sabzi Mandi“, dem Gemüsegroßmarkt der Stadt. Hatte er auch Lastwagen aus Gujarat oder gar Surat entladen, mit Chauffeuren und Begleitpersonen gesprochen? „Ja, letzte Woche entluden wir mehrere Lastwagen, die aus dieser Gegend kamen. Dann, am Samstag, hatte ich plötzlich hohes Fieber, und acht andere Kulis fühlten sich ebenfalls unwohl. Als wir vom Ausbruch der Pest hörten, beschloß ich, mich untersuchen zu lassen.“

Der Entschluß rettete ihm vielleicht das Leben. In seinem Büro hält mir kurz darauf der Institutsleiter Dr. Panda eine soeben eingetroffene Mitteilung des NIDH-Labors vor: Drei der vier letzten Proben testeten positiv, darunter jene von Kanwari Lal. Er weiß noch nichts davon, aber die Frage nach dem Verbleib seiner Kuli-Kollegen wird plötzlich wichtig. Ich gehe zu ihm zurück. „Als die von der Pest hörten, fuhren sie in ihre Dörfer zurück“, gibt er ahnungslos Bescheid. Die Aussage löst die bange Frage aus: „Ob wohl auf einen Kanwari Lal, der sich untersuchen läßt, immer acht Kulis kommen, welche die Seuche weitertragen?“ Bernard Imhasly