Geschmacklos: der Vergleich mit einer SED-Jubelfeier -betr.: taz-Kommentar zum 3.10.94

Betr.: taz-Kommentar zum 3.10.

Lieber Klaus Wolschner, gewöhnlich schätze ich Deine Beiträge und Kommentare aufgrund ihrer Differenziertheit. Aber mit Deinem Kommentar zum zum 3.10. hast Du Dich leider meilenweit von Deinem sonstigen Niveau entfernt. Dein Vergleich mit einer SED-Jubelfeier ist nicht nur geschmacklos, sondern hat auch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Geärgert hat mich vor allem, daß Du die Reden von Wedemeier, Herzog und Szcypiorski in die Nähe der dogmatischen Parteimonologe von Honecker und Co. rückst. Alle drei Reden waren in ihrem Grundtenor nachdenklich, anregend und differenziert und im übrigen weit von einem unverständlichen Parteichinesisch entfernt.

Du beklagst, daß die ostdeutsche Sicht auf die Probleme der Einheit gefehlt hat. Ist eine osteuropäische Sicht wie sie Szcypiorski mit seiner bewegenden Rede, die die westeuropäische Selbstgefälligkeit, die Einseitigkeit des westlichen Materialismus und die Machbarkeitsideologie beklagt, weniger wert? Gerade der politisch bewußte Teil der ostdeutschen Bürgerbewegungen hat seine Inspirationen von Leuten wie Szcypiorski und anderen mittelosteuropäischen Intellektuellen bezogen.

Wo bleibt Deine Kritik an den Initiatoren der Demonstrationen, die durch eine Strategie der gezielten Eskalation den Staat vorführen wollten? Daß Kids Lust an der Randale finden, während das, was sie politisch artikulieren, von einer erschreckenden historischen und politischen Unkenntnis zeugt, erschreckt mich. Ein Gefühl für die Stärken der Demokratie vor dem Hintergrund der beiden totalitäten Erfahrungen dieses Jahrhunderts entwickeln sie sicherlich nicht durch die Bekanntschaft mit dem Polizeiknüppel, aber erst recht nicht durch das Mitmarschieren im autonomen Block.

Gefehlt hat zum 3.10., und das kann man vielleicht der kritischen Öffentlichkeit in Bremen vorwerfen, ein großes Forum, auf dem kritische Geister aus Ost und West die Probleme der Einheit zur Sprache gebracht hätten. Dennoch ist es mehr als tendenziös, der zentralen Feier deshalb vorzuwerfen, daß sie eine „Jubelparty“ war (Bremer taz-Redakteurinnen Ulrike Fokken und Dora Hartmann auf Seite 3 der Bundestaz). Um ihre eigenen Vorbehalte gegen den vermeintlichen neudeutschen Nationalismus zu artikulieren, schrecken sie nicht davor zurück, Szcypiorskis Rede sinnentstellend zu zitieren. Szcypiorski hat über den deutschen Perfektionismus aus historischer Perspektive geurteilt und dann ganz unmißverständlich die deutsche Einheit begrüßt. Ich hoffe, die Bremer taz kehrt zu ihrem kritischen, aber redlichen und differenzierten Journalismus nach den Aufgeregtheiten um den 3.10. bald wieder zurück. Lothar Probst