Beim Schopfe Paganinis

■ Ein fulminanter Abschluß des Bremer Musikfests: Berlioz' „Romeo et Juliette“/ John Eliot Gardiner dirigierte u.a. einen teuflischen Sologeiger in bestem Wallehaarlook

Der kleine Rundgang durch das Bremer Musikfest ließ viel Musik hören, die Bilder malen, Geschich- ten erzählen, philosophieren oder Autobiographisches mitteilem wollen. Zum Finale konnte nun endlich der Übeltäter festgemacht werden, der mit äußerster Konsequenz instrumentale Musik zum Sprechen gebracht hat. Ein ganzer Abend mit Hector Berlioz – ein Graus für den Liebhaber des stillen sich Versenkens in undefinierbare, aber schöne, wohliges Behagen erzeugende Klangräume, ein Fest für den Freund des Grand Spectacle.

Berlioz beläßt es nicht beim Verströmen von Empfindungen und Malen von Stimmungen, bei ihm bricht mit enormen Getöse die Außenwelt über den Tonsetzer herein. Zum Teil reißt sie ihn mit, zum Teil bekämpft er sie – immer aber zerstört sie ihn. Kein Wunder, daß ihn es Shakespeare ist, der ihn immer wieder zu Feder und Notenpapier greifen läßt.

Mit drei instrumentalen Sätzen

aus Romeo et Juliette – dramatische Symphonie in sieben Sätzen eröffnete John Eliot Gardiner (wann endlich macht ihn die Queen zum Sir John) mit seinem Orchestre Revolutionnaire et Romantique den Abend. Drei Sätze aus Romeo und Julia sind zu wenig, um Berlioz Klangcollagetechnik zu erleben und zu begreifen, mit der er dem zarten Liebesglück, das an harten sinnlosen politischen Kämpfen zerbricht, zu Leibe rückt. Immerhin erleben wir den traurigen Romeo, dessen Liebesleid von der besessenen und lärmenden Lustigkeit der Festgäste bei Capulets zertrampelt wird. Wir werden Zeuge musikalischer Umsetzungen der Balkonszene und hören dabei eine der intelligentesten und zartesten Liebesszenen der Musikliteratur, die ganz ohne Wagners impulsive Triebschübe auskommt. Und wir hören, damit wir uns auf keinen Fall in Sentimentalität verlieren, eine Fee samt komödiantischen Kobolden durch die laue Veroneser Sommernacht tollen.

Nach der Pause betrat „Child Harold“, der Held aus Lord Byrons dramatischem Gedicht die Szene. Berlioz verband seinen Drang, dies zu vertonen, mit dem Auftrag Paganinis, ihm ein Bratschenkonzert zu schreiben. Beidem zugleich konnte der Meister nicht gerecht werden. Seine Bratsche gehorcht ausschließlich der dramatischen Funktion, die ihr zugedacht war. Die virtuose Fingerfertigkeit Paganinis wurde nicht bedient. Harolds Bratsche schreitet in düsterer Versenkung durch die bunte Welt. Sie betrachtet deren lächerlichen Gang mit innerer Distanz. Italiens grandiose Bergwelt mit seinen fidelen Bewohnern locken ihn Zar, doch er entzieht sich ihr. Pilgerzug und abendliches Ständchen enlocken ihm allenfalls arrogantes Achselzucken. Erst die Welt der wilden Abruzzen-Räuber packt ihn mit Macht. Sie schlagen ihn nämlich tot, was zum vorzeitigen Ausscheiden des Solo-Instrumentes aus dem vierten Satz führt. Paganini hat dies Bratschenkonzert zwar großzügig honoriert, aber nie gespielt.

Für das Konzert am Montagabend konnte ihn allerdings Sir John gewinnen, dies nachzuholen. Sein Solist Gerard Caussé spielte, als sei er Paganini. Groß, hager mit langer wallender Haarpracht, mit konzentrierter Spannung, die nicht nur dem Bogen, sondern den ganzen Körper erfaßte, zuweilen ein teuflisches Glanzlicht aus dem Auge blitzend, spielte er einen melancholischen Harold.

Das Orchestre Revolutionnaire et Romantique erwies sich einmal mehr als exzellenter Klangkörper, dessen Farbenreichtum besonders bei den Holzbläsern und den Tiefenstreichern auf das schönste mit den glasklaren, eher kühlen Klängen der Violine und dem rauchigen, aber verhaltenem Blech kontrastiert. Sir John, der dramatische Innenspannung gern in flottes Dahinschreiten umsetzt, ließ uns dies- mal Zeit beim Betrachten von Harold in Italien. Und so konnten auch Momentaufnahmen der Berlioz'schen Extreme sich setzen und haftenbleiben. So das unbeschreiblich zarte Konzertieren von Bratsche, Harfe, Klarinette und Violine im Pianississimo. Und auf der anderen Seite das unerhört knackige Auf- trumpfen des Schlagwerkes im Fortissimo. Der erste Pauker allein ist jede Reise wert. So theatralisch perfekt inzeniert, so präzise wie er vermag kaum einer seine Schläge zu setzen.

Berlioz in Bremen war ein fulmi- nanter Abschluß des hiesigen Musikfestes. Gleichwohl wächst der Hunger, beim nächsten Musikfest mit einem kompletten Romeo oder Faust konfrontiert zu werden. Sonst traut sich hier ja keiner. Mario Nitsche