: Literatur-Recycling
■ Wie in Frankfurt einmal beinahe doch noch die Revolution ausgebrochen wäre
Bald ist es zweihundert Jahre her, daß sich Präzeptor Goethe für die deutsche Literatur ins Zeug warf, in die Kampfstiefel stieg und gegen den „Literarischen Sanscülottismus“ in die Campagne zog. Ein Anonymus hatte es zu Beginn des Jahres 1795 gewagt, der deutschen Literatur Gegenwartsferne und folglich Stockbiederkeit vorzuwerfen. Ganz so, als hätte es keinerlei Unruhe gegeben drüben in Frankreich, als sei da nicht ein König, nach einem umständlichen Prozeß immerhin, einen Kopf kürzer gemacht worden, pinselten die deutschen Autoren ihre schnür- und schmalbrüstigen Werklein zusammen, ließen sich erheben und lobten und beförderten doch nur die Reaktion.
Erwähnter Goethe, im Zweifel immer nah bei den Fürstenthronen, holte die Geißel heraus, peitschte vorsorglich das deutsche Meer, das sich noch nicht einmal kräuseln wollte, und fand, wen wundert's, genug zu loben und zu bewundern am deutschen Mittelmaß. „Üble Laune läßt man in guter Gesellschaft nicht aus“, vermahnt er den unbekannten Pamphletisten, „und der muß sehr üble Laune haben, der in dem Augenblicke Deutschland vortreffliche Schriftsteller abspricht, da fast jedermann gut schreibt. Man braucht nicht weit zu suchen“, fährt er fort, nun schon um etliches milder gestimmt, „um einen artigen Roman, eine glückliche Erzählung, einen reinen Aufsatz über diesen oder jenen Gegenstand zu finden.“ Von seinem Feldherrenhügel in der deutschen Tiefebene blickte Goethe um sich und sah, daß alles ziemlich gut war, ziemlich „artig“, „glücklich“, „rein“. Man konnte stolz sein auf dieses literarische Deutschland von 1795, und Goethe war es auch (und sei's auch nur, weil er damit keinerlei Konkurrenz zu gewärtigen hatte).
In unseren neunziger Jahren geht es nicht weniger schnarchsackig zu als seinerzeit im deutsch- höfischen Schlagschatten der Französischen Revolution. Die Schriftsteller schreiben alle artig ihre Bücher, bekommen schöne Preise und Rezensionen dafür und schreiben glücklich weiter. Kein schlechtes Buch findet sich in dieser Produktion, wie die Frankfurter Messe ein weiteres Mal beweist, denn „gut schreiben kann heutzutage jeder zweite Depp“, wie Rainald Goetz vor Jahren einmal goetheweise bemerkte.
So gut, so abgehangen, so uninteressant können Deutschlands vortreffliche Schriftsteller schreiben, daß dieses gehobene Drechslerhandwerk, das Jahr um Jahr in Klagenfurt belobigt und bepreist wird, allmählich selbst bei seinen langjährigen Parteigängern Unwillen erregt. Lektoren, Autoren, Verleger ringen dramatisch die Hände, flehen um eine neue deutsche Literatur und kaufen, verlegen und besprechen dann doch nur amerikanische Bestseller.
Die Klage ist endlich auch zu Siegfried Unseld gedrungen, dem maßgeblichen Verleger der bundesrepublikanischen Literatur. Logisch dehnen sich auch bei ihm die literarischen Roßbreiten, liegen die Autoren herum, die so artig und zierlich zu schreiben verstehen, die eben noch als Avantgarde oder zum wenigsten als vielversprechendes Talent gelobt wurden, aber sie erblicken kaum je das Tageslicht außerhalb des düsteren Lagerraums.
Als guter Verleger versteht sich Unseld auf Marketing. Und da verfiel er auf eine blendende Idee, die ihm, wenn es noch Gerechtigkeit gibt in dieser schnöden Welt, wenigstens die Johann-Wolfgang- Goethe-Anstecknadel der Fachhochschule Ilmenau/Thüringen einbringen sollte: Unseld recycelt seine Autoren, zieht ihnen die Hosen aus, bindet ihnen eine Kokarde um und erklärt die fahlen Wiedergänger für Revolutionäre. „Literatur heute“ übertitelt Suhrkamp sein revolutionäres „Rotes Programm“, über dem die Strahlen von nicht weniger als vierzehn jungen Autoren aufgehen. Das Lamento über die jüngere deutsche Literatur sei „in der letzten Zeit lauter geworden“, räumt ihr Verleger ein und wehrt – wie's seine Pflicht – die Klage gleich als unberechtigt ab. Die deutsche Literatur sei doch gar nicht so schlecht wie ihr Ruf, jedenfalls nicht, soweit sie bei Suhrkamp erscheint, sie müsse nur gelesen werden.
Damit man das tut, hat er vierzehn Bücher seiner vierzehn Autoren aus den vergangenen zwölf Jahren neu einbinden lassen, rot nämlich, feuermelderrot, und verkauft sie als – was sonst? – „Neue Texte“. Die Revolution ist da, beziehungsweise sie hat kurz reingeschaut. Die Hosenlosen würden ins Weltgeschehen eingreifen, dem Säkulum die Zähne zeigen, dreinfahren, daß es nur so staubt ... Oder, wie Unseld sagt, ganz vorn im Zug, die Streitaxt in der hochgereckten Faust: „Unsere Zeit ist eine Zeit des Umbruchs, des Verfalls und vielleicht auch der Entstehung anderer Werte, des Zusammenbruchs von Utopien und des Noch-Nicht neuer Utopien ...“ Herr, es ist genug! Vor diesem Feldgeschrei nehmen die Feinde aber schon Reißaus ... Sieg, ein neuer Sieg! Oder was, oder wie?
Nein, die Reihe der „Neuen Texte“ im Suhrkamp Verlag ist kein Schwindelunternehmen. Unseld ist offen und ehrlich zu seiner Kundschaft. „Wir wollen ein Signal geben“, verkündet er, „wir wollen aus der Distanz der Jahre zeigen, wieviel Neues, Innovatives diesen literarischen Anfängen innewohnt, mit welcher ästhetischen Vielfalt in Prosa, Lyrik und im Dramatischen die ersten Bücher dieser Autoren auf ihre Zeit reagierten und wieviel Lebenserfahrung sie in ihre Bücher eingebracht haben.“ Und so brabbelt er weiter. Wirklich keine schlechte Idee, in Meßdienerrot die Lager zu räumen und gleichzeitig auch noch wahnsinnig neu, ja geradezu innovativ in Lyrik, Prosa und schon gleich gar im Dramatischen zu sein.
Unselds wiedergeborene Autoren, sie können alle so gut schreiben, sie sind vom ersten Satz an stipendienfähig, und nach der ersten ins reine getippten Seite ereilt sie unweigerlich der erste Preis. Einer beamtenmäßigen Karriere im deutschen Literaturbetrieb steht nichts mehr im Wege, Arbeitsplätze werden rar heutzutage, die alten Industrien (Bitterfeld!) abgebaut, Dienstleister in lean production sind gefragt. Die deutsche Literatur beugt sich dieser Forderung nach gesellschaftlicher Integrabilität, seit sie erhoben wird. Sie liefert das kunden- und nutzerfreundliche Begleitprogramm zu Mühsal und Plag' dieser Welt. Oder, wie es der Frankfurter Jakobiner formuliert: „Literaturen sind komplexe Wirklichkeit.“ Der Mann – was soll man sagen? –, der Mann hat recht.
Mit der Revolution ist es also wieder nichts. Wir fassen uns deshalb alle artig an den Händen, begrübeln mantramäßig das „Noch- Nicht neuer Utopien“, und schon ist alle üble Laune verflogen. Die sanscülottesche Revolution, sie war nur eine Grille. Und wenn es sie nicht gäbe, die neue deutsche, die innovative Literatur, gleich ob rot gewandet, nachtschwarz oder sonstwie sozial auffällig, sie würde einem doch nicht fehlen. Willi Winkler
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