Weltsinnmaschine kaputt

Lars Gustafsson mag zerstörerische unakademische Jugendbewegungen und backfischhafte dreißigjährige Frauen nicht mehr  ■ Von Stephan Wackwitz

Zu behaupten, daß früher alles besser gewesen sei, deshalb zum Beispiel eben auch die Romane Lars Gustafssons, ist fraglos ein verabscheuungswürdiges Sprachspiel des Kulturkonservatismus. Aber es hilft nichts: Am Eingang dieser Rezension von Gustafssons neuem Roman „Die Sache mit dem Hund“ muß ich meine eigene Position im politisch-literarischen Geschmacks- und Wertungsfeld ehrlicherweise durch das Bekenntnis bezeichnen, daß ich mich bei der Lektüre in ungefähr derselben Weise nach Gustafssons „Familientreffen“, seinen „Wollsachen“, nach dem „Tod eines Bienenzüchters“ – kurz: nach den siebziger Jahren – gesehnt habe wie beim Anhören von „Voodoo Lounge“, der neuen CD von den Rolling Stones, nach „Exile on Main Street“ oder „Goat's Head Soup“.

Gustafssons Held und Erzähler in „Die Sache mit dem Hund“ ist ein Konkursrichter in Austin/Texas, der in einigen Jahren pensioniert werden wird und die Welt nicht mehr versteht. Es kracht sozusagen zusammen um ihn herum. Die Ehe seiner Tochter geht kaputt. Der Yachthafen gegenüber seinem Seegrundstück brennt ab.

„Auch die Einkaufszentren beunruhigen mich, mit dieser Mischung aus herumlungernden, beschäftigungslosen Jugendlichen, einsamen, alten Pensionären, die endlos an den Cafétischen hocken und unentwegt den Rollschuh laufenden Jugendlichen zusehen. Ein eigentümlich kontaktloses Dasein, das dennoch den Versuch eines sozialen Lebens darstellt.“

Es regnet fortwährend. Der See schwillt an, und zeitweilig fühlt sich der Erzähler, als sei die Sintflut nahe. Er wird von einem gestörten Menschen belästigt, der ein System zur Konstruktion des Sinns der Welt erfunden hat, das der Erzähler ihm kaputtmacht, indem er ihm grausamerweise steckt, daß diese Weltsinnmaschine nur ein Nachbau der „Ars magna“ von Raimundus Lullus (13. Jahrhundert) ist.

Nicht einmal auf sich selbst kann der Erzähler sich noch verlassen. Einen streunenden Hund, der ihm immer an die Mülltonne geht, schlägt er, der Jurist mit Humanum, großem Latinum und Seegrundstück, bestialisch tot. Und man weiß am Schluß nicht, ob er nicht vielleicht auch den Irren mit der Weltsinnmaschine, der ihm monatelang Drohpostkarten geschickt hat und der schließlich auf grauenhafte Weise ermordet aufgefunden wird, auf dem Gewissen hat.

Der ehemalige Philosophieprofessor des Erzählers hat sich umgebracht. Jetzt kommt raus, daß er (pssst! Paul de Man... nicht weitersagen!!) vor fünfzig Jahren in Nazi- Zeitungen antisemitische Hetzartikel geschrieben hat. „Genau besehen handelte der gesamte öffentliche Teil seiner Philosophie davon. Jeglicher Sinn fließt, rutscht den Abhang hinab, ist in Talfahrt. Die Person, die gestern gesprochen hat, ist nicht dieselbe wie jene, die heute spricht.“

In den siebziger Jahren, in jener Romanserie, die er unter dem Obertitel „Risse in der Mauer“ zusammenfaßte, hat Gustafsson gezeigt, daß die Utopie einer sozialdemokratisch durchrationalisierten Moderne in Wirklichkeit ein Alptraum ist – und wieviel Lebendigkeit, Leiden und Hoffnung unter dem schwedischen Beton begraben liegt, bereit, bei der nächsten Gelegenheit – möglicherweise gewaltsam – an die Oberfläche zu treten. Noch ein so verzweifeltes Buch wie „Herr Gustafsson persönlich“ zehrte von der Hoffnung, die dieser Feind der regierenden Sozialdemokratie mit ihr gemeinsam hatte: daß es einen Ausweg geben könnte, daß eine menschenwürdige Moderne denkbar sei. Die „Risse in der Lügenmauer“ würden die Sicht freigeben auf ein anderes Leben, ein Leben, das zwar gefährdet und schwierig wäre, lebensgeschichtlich vielleicht zu spät erreicht würde, um es noch wirklich auszukosten, ein Leben, das Opfer fordern würde: Aber es gab für Gustafsson ein Leben jenseits der Lügenmauer.

„Die Person, die gestern gesprochen hat, ist nicht dieselbe wie jene, die heute spricht.“ In Gustafssons neuem Roman zeigt sich hinter den Rissen in der Mauer ein gnostisch zweigeteiltes Universum. „Die Wahrheit ist, daß Verbrechen und Strafe, daß Gut und Böse nicht sehr viel miteinander zu tun haben. Sie gelten als demselben System zugehörig, wie Nordpol und Südpol, wie Dunkelheit und Licht. Aber im tiefsten Inneren wissen wir, daß sie einander kaum vom Hörensagen kennen. Zwei Götter, die jeder auf eigene Faust die Welt erschaffen haben und sich in einer dunklen Nacht überrascht inmitten der kosmischen Dunkelheit begegnen.“

Gustafssons Konkursrichter wendet auf die beiden manichäischen Demiurgen seines Weltbilds den Anselmischen Gottesbeweis an, eine Verwechslung von Möglichkeit und Wirklichkeit: „Mit der Güte und der Bosheit muß es dieselbe Bewandtnis haben wie mit Anselms Gott. Sind sie denkbar, müssen sie existieren.“

All das ist sehr schön und gut und gustafssonhaft. Die Bildungshuberei machte ja auch nicht wenig vom Reiz der früheren Romane aus. Auch kommen wieder schön düstere Abende vor, Herbstlaub, Morde, Vögelszenen in Hinterzimmern alternativer Buchhandlungen, starke Frauen, kluge Kinder, und der Erzähler ist von derselben abgeklärten Melancholie wie die fünf Larse in „Die Risse in der Mauer“. Gustafsson hat wieder eine Art philosophischer Gothic Novel geschrieben. Das wirklich Gruselige aber in „Die Sache mit dem Hund“ sind die reaktionären Klugscheißereien eines Erzählers, der, mit allen Anzeichen der Autorensympathie, offenbar die Weltsicht seines Schöpfers von sich gibt.

„Nancy ist sonderbar. Ich kann nicht begreifen, wie sie mir so fremd werden konnte. Eine grundsätzlich unzufriedene Person, anscheinend ständig irgendwohin unterwegs, die nicht sieht, was sie hat (ihren Sohn, den sie sträflich vernachlässigt und immerzu auf andere abwälzt, wie ich meine), und irgend etwas nachjagt, was sie nicht hat (einem Mann, nehme ich an, fürchte aber, daß sie sich eigentlich eine Geliebte wünscht), und immer beschäftigt mit Fragen, Bewegungen, Ansichten: der Postmoderne, dem Dekonstruktivismus, dem Feminismus, dem bevorstehende Untergang der USA. All das ist, wie mir scheint, weniger Ausdruck einer durchdachten Politik, sondern eher der jeweilige Ausdruck einer destruktiven Bitterkeit, einer Art von zerstörerischer unakademischer Jugendbewegung, einer backfischhaften Raserei, die bei einer dreißigjährigen Frau nicht gerade angenehm ist.“

Da haben wir ihn in seiner ganzen Schönheit: den Achtundsechziger-Heroen, wie er in der „Paris Bar“ sitzt und über die Welt schwadroniert, zu Beginn der Neunziger, in denen alles gebraucht würde, grundsätzliche Unzufriedenheit, Dekonstruktivismus, Postmoderne, Feminismus, zerstörerische unakademische Jugendbewegungen, backfischhafte Raserei bei dreißigjährigen Frauen: bloß diese ranzigen Altmännerweisheiten nicht.

Lars Gustafsson: „Die Sache mit dem Hund“. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag, 240 Seiten, geb., 34DM