Starre Expansionen der Lüsternheit

... und ikonenhaft bedeutungsvolle Spalten. In Walter Abishs neuem Roman „Sonnenfieber“ verlieren Mexikaner und Gringos die Orientierung zwischen präkolumbianischen Göttern und postcortésianischer Küche  ■ Von Niels Werber

Am Anfang fährt der berühmte mexikanische Literaturkritiker seine Frau Mercedes zum Flughafen von Mexico City. Sie fliegt in die USA, um dort Spanisch zu lehren, aber vor allem, um einer langwierigen Ehekrise in die Arme eines amerikanischen Schriftstellers zu entfliehen, dessen Bücher sie übersetzt und ihr Mann verachtet. Am Ende des Romans von Walter Abish fliegt sie zurück, um mit ihrem Mann „händchenhaltend auf dem Rücksitz der Limousine“ in ein neues Glück hineinzufahren. Am Anfang leidet Alejandro an partieller Amnesie, am Ende an juckenden Hautausschlag. Was geschieht dazwischen?

Eine Handlung ist nach Aristoteles' berühmter Definition eine Ganzheit, die „Anfang, Mitte und Ende besitzt“, wobei aus dem Anfang „natürlicherweise“ Ereignisse entstehen, die auf ein Ende zulaufen, aus dem dann nichts „weiteres mehr entsteht“. Abishs „Sonnenfieber“ besitzt keine Handlung, denn zwischen dem ehekriselnden Anfang und dem happy ending besteht kein Zusammenhang, kein „natürlicher“, auch kein artifizieller. Da es völlig unklar bleibt, warum Alejandro plötzlich, von entsetzlichem Juckreiz geplagt, „in den Schoß seiner Familie“ zurückkehrt, könnte man zu glauben versucht sein, er reagiere allergisch auf die Idylle. Derartig ironische Brüche mögen es gestatten, den Roman der Postmoderne zuzuschlagen. Der Klappentext, der ein Gewebe von Handlungssträngen, „so kunstvoll wie die Stimmen einer Fuge“, verspricht, legt dieses Etikett ohnehin nahe.

Allerdings ist eine Fuge nach einem strengen Muster komponiert, was man von Abishs Roman nicht behaupten kann. Bei Abish treffen zwar in einer Villa „die Wege aller Beteiligten zusammen“. Dies bleibt jedoch für den Verlauf der Erzählung und die Entwicklung der Charaktere folgenlos. Selbst die hübscheste Villa wird ohne Handlungsführung zu einem Wartesaal für wahllos kommende und gehende Personen auf der Durchreise. Nicht, daß nichts passieren würde, im Gegenteil, eine Episode reiht sich an die nächste. Aber die zufälligen Begegnungen von Abishs Personal haben keine interessanten Konsequenzen. Sie bleiben Staffage für Restaurants, Ruinen und Partys. Der Immobilienhai, seine Frau, deren Geliebter, der zwielichtige Kunsthändler, die pistoleros, die minderjährige Jüdin, der große Romancier, die Kritiker, der Verleger – sie alle laufen sich dauernd über den Weg, um zu „lunchen“ und Platitüden auszutauschen, um zu tratschen und zu intrigieren, bestenfalls um sich zu betrügen, umzubringen oder miteinander zu schlafen. Jeder und jedem könnte alles zustoßen. Da die Charaktere kaum im Detail entwickelt werden, kann man auch jedem alles zutrauen. „Zu wem mochte sie das gesagt haben?“ heißt es an einer beliebigen Stelle. „Seinem besten Freund, Francisco? Oder könnte es Raúl gewesen sein? Oder womöglich Jacobus?“ Man erfährt es nicht, und es ist auch egal. Alejandro könnte ein Frauenheld sein wie Francisco. Jeder könnte auf der Folter Preston Hollier verraten. Jeder könnte mit Rita schlafen, und viele tun es wohl auch. Alejandro könnte am Ende dieses Werkes Masern oder Aids haben, seine Frau könnte ihn endgültig verlassen oder auch erschießen, der Leser wäre weder überrascht, noch könnte er sich in irgendeiner Erwartung bestätigt fühlen, weil keine aufgebaut wird. Die Lektüre bleibt weitgehend frei von Spannungsmomenten.

Wir wollen nicht so altmodisch sein und von einem Roman Handlung erwarten. Daß man darüber hinaus auch auf Charaktere mit Tiefendimension verzichten kann, hat Bret Easton Ellis im „American Psycho“ demonstriert, wo gerade die beliebige Austauschbarkeit der Yuppies zum gestalterischen Mittel wird. Aber wenn Handlung und Charaktere fehlen, sollten wenigstens Episoden gereicht werden, die man häppchenweise genießen kann, auch wenn die Speisenfolge keinerlei Gesetzmäßigkeit verpflichtet ist.

Man nehme etwa die Bonny- Episode. Die minderjährige Tochter des jüdischen Romanicers Jurud reißt aus New York aus, weil er mit Mercedes schläft. Bonny will in Mexiko eine totale Sonnenfinsternis erleben und den nächsten Roman ihres Vaters mit Erlebnissen anfüttern. Auf dem Weg dorthin wird sie selbstverständlich verführt. Ihrem Jahrzehnte älteren Beischläfer erklärt sie, sie sei „ein Buch, das darauf wartet, geschrieben zu werden“. Sie wird schließlich die Sonnenfinsternis nicht in Yucatán sehen, sondern auf CNN, der das „Jahrtausendereignis“ weltweit überträgt. Bonny gibt sich zu Beginn ihrer Flucht als Zwanzigjährige aus, wirkt nach ihrer Entjungferung wie 15, um nach einem Unfall zu einer Siebenjährigen zu regredieren. Wer immer in diesem Scheitern eines Versuchs, erwachsen zu werden, Ironie entdecken kann, mag die Lektüre auf sich nehmen. Belohnt wird der gewissenhafte Leser allemal mit einer der gesuchtesten Sexstellen der Weltliteratur. Sie besteht aus nur einem Satz, den wir hier gern zitieren, um der Einmaligkeit von Stil und Thema gerecht zu werden:

„Als er die starr aufwärts gebogene Expansion seiner Lüsternheit in jene klug ersonnene Öffnung an der Nahtstelle ihrer unsagbar weißen Beine schob, als dann nur noch ihre Phantasie das Quantum ihrer Paarungspositionen einzuschränken vermochte – als er sich, während sein Geist die rapide Beschleunigung des angenehmen Auf und Ab registrierte, feucht und unter aktiver Beteiligung ihrerseits in steter Wiederholung nach vorne warf, in sie hinein, in diese an den Wänden der Schultoilette so oftmals graphisch reproduzierte, ikonenhaft bedeutungsvolle Spalte, diesen verlockenden Eingang unterhalb der Schambehaarung, CONO genannt, diesen handgezeichneten Schlitz – zuweilen plump ausgeschmückt mit kleinen Schnörkeln zur Bezeichnung des Haares –, dies treffliche Emblem für jenes einzigartige Andere, auf das Schuljungen so prompt reagieren, drang Francisco damit nicht gleichzeitig in jene für ihn noch immer schwer faßbare, paradiesische Welt Amerikas ein, in der sie, die frühere Cheerleaderin, aufgewachsen war?“

Preziöser geht es kaum, und die Sache wird nicht besser dadurch, daß im Hotelzimmer über dieser mexikanisch-amerikanischen Einräumung von bilateralem „unbeschränktem Zugang“ ein echter Latin lover seine Geliebte als „chinga tu madre, hijo de puta, hijo de la chingada“ beschimpft. Denn bei Abish sind diese Auflüge in die Gosse genauso gekünstelt wie Franciscos Reflexionen beim GV. Schließlich seien diese „mexikanischen Beleidigungen“, so erklärt uns der Erzähler, „aggressive Worte, die ihren Ursprung in der spanischen und präkolumbianischen Vergangenheit hatten“. Ja, so ist er, der Erzähler, immer hilfsbereit. Alejandros Eifersucht auf Jurud? Der Erzähler hat eine Erklärung gleich parat: „In Mexiko ist jeder Mann mit der bangen Ahnung künftigen Verrates aufgewachsen ... Denn mit einem verräterischen Akt – als La Malinche mit Cortés schlief, ihm ein Kind gebar und damit alle ihre Landsleute betrog – hat das moderne Mexiko angefangen.“ Wenn es auch an Handlung, Charakteren, Episoden und Geschmack mangelt, an schlauen bis schlaumeierischen Meinungen herrscht Überfluß. Der Kritiker Alejandro führt „das geringe Interesse an Romanen auf das reichhaltige Angebot an Gerüchten zurück“. Mit einem „Sonnenfieber“ nimmt es wohl schon selbst leichterer Tratsch auf.

Walter Abish: „Sonnenfieber“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, 384 Seiten, geb., 45 DM