Sinnliche Vernunft

Schöne Versprechungen: Terry Eagleton rekonstruiert die Ideologie des Ästhetischen  ■ Von Frank Lucht

Wie erklärt sich der hohe Stellenwert, den die Kategorie des Ästhetischen seit dem 18. Jahrhundert innerhalb der unterschiedlichsten philosophischen Ansätze einnimmt? Und wie steht es um die Verflechtungen des Ästhetischen mit den scheinbar so ganz anders gelagerten Fragen der Erkenntnis, Moral und Politik? Diese Fragen beschäftigen den Oxforder Literaturtheoretiker Terry Eagleton in seinem Buch zur Geschichte der ästhetischen Ideologie. Daß es sich dabei um ein „eminent widersprüchliches Phänomen“ handelt, gibt Eagleton gleich zu, und daß er sich als einer der letzten bekennenden Marxisten mit Ästhetik beschäftigt, ist ihm ebenso eine kleine Entschuldigung wert wie das Einbekenntnis, als Nichtphilosoph über Philosophie zu schreiben. Das wirkt sympathisch. Das lesenswerte Buch erscheint in deutscher Sprache zeitgleich mit Paul de Mans „Die Ideologie des Ästhetischen“. Neben de Mans Unternehmen, das Ästhetische rhetorisch zu dekonstruieren, nimmt sich Eagletons Versuch (in dem de Man mehrfach wohlwollend an die Seite Adornos gerückt wird), vergleichsweise altmodisch aus. Eagleton versteht sich als „jemand, der in der sozialistischen Tradition der Arbeiterklasse groß geworden ist“, und er klagt: „Es gibt mittlerweile vor allem in den USA, doch auch in vielen Teilen Europas Menschen, die zwar zu einzelnen politischen Themen eine unbezweifelbar radikale Einstellung haben, sozialistischen Kämpfen aber ebenso sorglos und ignorant gegenüberstehen wie nur irgendein Eigenheimbesitzer der Mittelstandsklasse.“ Wie auch immer: Eagleton unterläuft wenigstens nicht die Peinlichkeit, die der ansonsten verdienstvolle späte de Man uns auftischt: daß er mit viel Pipapo die beiden zentralen Sätze in Hegels Ästhetik, den definitorischen, Kunst sei das „sinnliche Scheinen der Idee“, und jenen anderen, Kunst sei „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“, für identisch erklärt.

Ästhetische Ideologie beginnt für Eagleton nicht erst beim Ästhetizismus etwa eines Stefan George, sondern schon dort, wo, wie bei Schiller, das Ästhetische als „das fehlende Verbindungsstück zwischen einer barbarischen Zivilsozietät, die ganz den Begierden überantwortet ist, und dem Ideal eines wohlgeordneten Staates“ gilt. In Schillers Worten: „[...] es giebt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“ Schiller ist noch ein Adept der Kantschen Geschmackskultur. Kurze Zeit später wird der Ton schärfer und die Erwartung größer. Im sogenannten „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (das bei Eagleton nicht ausdrücklich vorkommt, aber für die Thematik exemplarisch ist) liest man: „Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß ,Wahrheit und Güte‘ nur ,in der Schönheit‘ verschwistert sind.“ Dieses 200 Jahre alte Manifest, überliefert in Hegels Handschrift, geschrieben in der Diktion Schellings, darf als Geburtsurkunde dessen gelten, was Bernhard Lypp als „ästhetischen Absolutismus“ bezeichnet hat.

Auf die Entzweiung der Welt, den Widerstreit zwischen theoretischer Reflexion und politischer Praxis, hat der deutsche Idealismus mit eigenartiger Emphase reagiert. Der ästhetische Sinn soll die Einheit der Erfahrung unter den Bedingungen der Vereinzelung, Entzweiung und Entfremdung in Aussicht stellen. Nur durch den ästhetischen Sinn allein können die Spontaneität der Ideen und die Freiheit der Menschen über den Zwangscharakter der Statsmaschinerie triumphieren. Sein Doppelcharakter von Utopie und Ideologie enthüllt sich nicht erst durch den Inhalt, sondern schon in seiner formalen Struktur, als Versprechen der Versöhnung. Die emphatische Freiheit kann nur jenseits des Politischen erfahren werden; im selben Moment wird die Welt in ein Kunstgebilde verwandelt, das über die Frage nach einem pragmatischen Freiheitsbegriff erhaben ist. Der ästhetische Absolutismus antwortet auf den politischen. Die Programmatik einer absoluten Freiheit gipfelt in der Forderung nach einer „neuen Mythologie“, einer „Mythologie der ,Vernunft‘“.

Aber nicht die Dichter stiften diese „neue Religion“, sondern: „Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt“. Das unterscheidet diese Mythologie von der alten allerdings ebenso wie von denen, die seit Nietzsche auf sie folgten; vom aufgesetzten Polytheismus der Postmoderne, von Karl Heinz Bohrers hartnäckiger Ambition, das Ästhetische zu substantialisieren und unentwegt gegen die sogenannte Geschichtsphilosophie auszuspielen; und von George Steiners plumpen Plaudereien über die „Realpräsenz“ eines hohen Sinnes in der Kunst. „Die Kultur“ ist, wie Eagleton sagt, „ein Teil des Problems, als dessen Lösung sie sich anbietet.“ Dabei lehnt er die Reduktionismen und Verschwörungstheorien mancher Linker für sich ab, die nach dem Motto denken: „Wahrheit ist eine Lüge, Moral stinkt, und Schönheit ist Scheiße.“ Das ist ja auch nicht radikal, sondern nur rabiat. Eagletons unerschrockener Umgang mit den konventionell gewordenen Reizwörtern gehört zum Besten an diesem Buch. Anläßlich von Foucaults Programm einer „Ästhetik der Existenz“ fragt er: „Geht es letzten Endes nicht nur um die Frage, wie man (nach Art der Postmodernen) sein Verhalten ,stilisiert‘? Wie genau würde eine stilvolle Vergewaltigung aussehen?“ Was hingegen auffällt, ist ein Umschwung innerhalb der kurrenten Theoriedebatten vom ästhetischen Enthusiasmus zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Begriff, der bis vor kurzem noch als letzter Schrei gehandelt wurde. Dabei überkreuzen sich die Versuche einer erneuerten Kritik. Eagleton will das Ästhetische nicht irgendwie entlarven, sondern „Zugang gewinnen zu zentralen Fragen des modernen europäischen Denkens“. So folgt er dessen wechselvoller Geschichte von Shaftesbury, Kant über Hegel, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Marx, Freud, Adorno, Benjamin bis zur seligen Postmodernität. Hier diskutiert Eagleton vor allem die Versuche Foucaults und Lyotards, Ethik durch eine ästhetische Selbstkultur quasi subversiv zu unterlaufen oder nietzscheanisch zu überbieten. Einige Zitate:

Eagleton über Hegel: „Überhaupt zu denken ist für Hegel zutiefst ironisch ...“

Über Freud (anerkennend): „Eine Beethovensonate mit den Hoden in Verbindung zu bringen entspricht kaum dem Stil der traditionellen Ästhetik.“ Und: „Es gibt eine Geschichte, die Freud wohl gefallen hätte. Sie berichtet, wie Moses, die Gesetzestafeln unter dem Arm, vom Berg Sinai herabsteigt und den versammelten Israeliten zuruft: ,Ich habe sie auf zehn runtergehandelt, aber Ehebruch ist noch immer dabei.‘“

Über Nietzsche: „Der Übermensch kann Mitleid und Mildtätigkeit an den Tag legen, doch sie sind lediglich Aspekte der lustvollen Ausübung seiner Macht, der noblen Entscheidung eines Starken, sich den Schwachen gegenüber großmütig zu geben. [...] Für den Übermenschen ist es ästhetisch von Zeit zu Zeit erfreulich, die Fülle seiner Kraft so einzusetzen, daß er anderen beisteht. Er bleibt sich dabei stets der Tatsache bewußt, daß er diese Kraft ebensogut dazu benutzen könnte, andere zu zermalmen.“

Über Adorno: „[...] eine defätistische Einschätzung der Politik erzeugt kompensatorisch eine großartige Ästhetik.“

Wer sich einen ersten Überblick über die ästhetischen Positionen der letzten zweihundert Jahre verschaffen will, ist mit diesem Buch gut beraten. Die einschlägige Literatur fehlt allerdings beinahe komplett. Zu Kant wird neben Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ nur eine kleine Schrift von Deleuze genannt. Terry Eagleton gewinnt den Leser aber durch Sachverstand, unprätentiöse Darstellungsweise und kluges Engagement.

Terry Eagleton: „Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie“. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 447 Seiten, geb., 78 DM