Schwarz im Kopf

Andreas Mands empfindsamer Roman „Das rote Schiff“  ■ Von Thomas Groß

Mit Siebzehn, da mag man noch Träume gehabt haben, aber wenn's dann mal auf die Dreißig zugeht ... Rette, wer kann – das Leben! „Manchmal war ich ganz beherrscht von dem Gefühl, daß alles schon lange zu Ende war, daß ich diese Straßen schon Hunderte Mal gegangen war, daß jeder verdammte Balkon mit Erinnerungen belastet war, ,hinter diesem Doppelfenster hatte ich meinen ersten Geschlechtsverkehr‘, wie Sebastian einmal sagte.“

Paul heißt der Typ, der hier schon auf Seite 9 so ungehemmt seine Lieblings-Mood anschlagen darf. Paul Schade bezeichnenderweise, denn nahezu nichts an ihm ist heil geblieben, tut nicht „irgendwie“ weh. Sicher, es gibt Gründe: das abgebrochene Studium, das freudlose Leben in der Agentur; dann vor allem auch Pauls unerfüllte Liebe zu Sigrid, einer Discothekenbekanntschaft, die ganz zu Anfang einmal zur richtigen Musik die richtigen Dinge gesagt hat. Aber traurig ist er sowieso. Paul Schade, der Held in Andreas Mands jüngstem Roman, ist ein Nachfahr all jener allround enttäuschten Superaußenseiter, deren Verletztsein – sozusagen avant la lettre – dermaßen tief geht, daß das Leben ihnen im Prinzip nichts mehr zu bieten hat. Jetzt stehen sie draußen vor der Tür, und keiner, keiner gibt Antwort.

In den Siebzigern, die die letzte Blüte dieser Art von hochsensibilisiertem Problemismus hervorgebacht haben, brachen die Helden immerhin zu längeren Findungsreisen auf: raus gen Italien, wo auf Goethes Spuren neue Lieben lockten; oder rein in die Generalabrechnung mit den Genossen, die noch immer die alten Sprüche leierten. Doch nicht einmal diesen Triumph gönnt Mand seiner Figur, Lichtjahre später, „in dieser merkwürdigen Welt Mitte der achtziger Jahre“. Alles ist armselig, as can be. Die halbuniversitäre, provinzverlorene Aktionsgruppe, der er zeitweise angehört, heißt bekennend „Randgruppe“ (eine ihrer Aufgaben: „TAZ-Redakteure mit Tips versorgen“), und als sie sang- und klanglos zerfällt, kehrt der halbherzig Politisierte auch schon bereitwillig heim in seine zentrale Privathölle, deren Anamnese er allerdings mit einem zähen, der katholischen Beichte verwandten Engagement leistet. Sie liest sich immer noch wie aus dem Kompendium des Psychiaters Ronald D. Laing: „Paul schlief mit Marion, Jürgen schlief mit Sigrid. Paul und Sigrid lagen nebeneinander und träumten. Nicht alle waren damit glücklich. Vielleicht niemand.“

Dieses kokette „Vielleicht“! Wo doch auch hier das Scheitern längst ausgemacht ist. Nichts, aber auch gar nichts transzendiert das wunschlose Unglück des Protagonisten und seiner diversen Beischläfer, weder Blochs „Prinzip Hoffnung“, dessen ersten Band er mehr wie einen Fetisch mit sich herumträgt, noch das im Titel angesprochene rote Schiff, das man sich im übrigen als eine dem Hochbett vergleichbare Wohn-Schlaf- Abhäng-Kombination vorzustellen hat, wie sie junge Männer sich in ihr erstes WG-Zimmer gern hineinbasteln. So auch Paul, als er sich von den Umarmungen der Frauen noch mancherlei versprochen hatte. Doch, siehe oben: Bereits zu Beginn des Erzählens steht das unpraktische Teil bei dem biederen Bruder in Berlin, wohin auch Sigrid schlußendlich verzieht.

Das ist traurig auf eine Art, die kaum kommunizierbar ist. Sagen wir mal so: Der Genuß dieser Lektüre ist eher ein sekundärer. Einigermaßen gebannt folgt man Mands nicht gerade zeitgemäßem Versuch, einen ganzen Roman mit nichts zu füllen als den haltlosen, abgründigen Impressionen eines Wimps, die sich ihrerseits um ein völig vages erotisches Motiv gruppieren. Das hat schon wieder was Experimentelles! Hautnah ist man dabei, wenn der Held sich im Winter in Beisein Sigrids eine Wollmütze aufsetzt, dann aber wieder absetzt, „weil sie blöd aussah“. Man ist Zeuge, wenn ihm auf seinen Wegen immerzu „schwarz im Kopf“ wird, wenn er einer Frau, die er entfernt kennt und nächtens heimsucht, ins Waschbecken kotzt, um hinterher beim Blick in den Spiegel finden zu können, das Weiß seines Gesichts gebe ihm „ein durchgeistigtes Aussehen“.

Nur zweimal kommt der Roman über diese engen Kringel am Innern der Schädeldecke hinaus: in der Beschreibung eines Zivildienstseminars, wo plötzlich klar wird, wie treffend und analytisch so ein Achtziger-Jahre-Bewußtsein funktionieren kann, wenn es erst seinem natürlichen Feind begegnet – den bärtigen, als Agenten des Staates begriffenen Wollpulli- Pädagogen der 68er Generation; und in der Skizze einer gescheiterten Musikerkarriere. Schade, als Gitarrist und Sänger ein genialer Provinz-Dilettant, kommt deshalb über die Produktion von Demo- Tapes nicht hinaus, weil er das Bespielen von Kassetten als urpersönlichen, nicht beliebig wiederholbaren Akt begreift, im Grunde als eine Art Minnesang. Stücke mit Titeln wie „Leben/Verbrechen“ schaffen es zwar auf geisterhaften Wegen bis auf die Nachtschiene von Radio Bremen, bleiben aber doch akustische Liebesbriefe an Sigrid. Die Antwort der Besungenen ist freilich niederschmetternd: „Manche fand ich gut, manche fand ich nicht so gut.“

Und dafür die ganze Liebesmüh? An Stellen wie dieser meint man, in der Beschreibung des natural born losers Schade einen gewissen auktorialen Humor herausschimmern zu sehen – und gewinnt plötzlich den Eindruck, die Schilderung dieser Heldenvita sei gar nicht auf Identifikation angelegt; dem Krefelder Pastorensohn Mand sei es vielmehr darum gegangen, gerade in der hermetischen Wiedergabe kurzschlußartiger Melancholiekreise ein Bewußtsein zur Ausstellung freizugeben – hey, Leute, so waren sie wirklich, die wilden Achtziger! Und so erbärmlich, altklug, sexlos und in sich selbst verstrickt ihre Außenseiter! Und hat er nicht genau das mit „Grovers Erfindung“ getan, seinem weitaus besten Roman, der auf leicht unheimliche Weise ganz im Horizont eines Pubertierenden verbleibt?

So richtig kapiert man das nicht, und diese Verwischung von Wollen und Müssen ist die erstaunlichste Leistung dieses jüngsten Wurfs. Warum schreibt einer heute so etwas? Zumal ein Autor, der wiederholtermaßen als hoffnungsvolles Talent der „jungen Szene“ in „großen“ Rezensionen (zweimal im Spiegel!) hofiert wurde? Wurde er mit seiner Rollenzuschreibung nicht fertig? Oder kommt er nicht von ihr los? Ist er unheilbar infiziert von der „Krankheit Literatur“? Zuviel oder zuwenig Stipendien? Ist sein Leben eine Polonaise unerreichbarer Sigrids? Versauert er als Stadtschreiber in Hinterbuxtehude?

Ein- oder zweimal nimmt man einem Autor die durchdringende Fixierung auf den juvenilen Blick ja ab, aber irgendwann muß doch ein wenig Welt einsickern in dieses Museum der Stigmatisierungen, irgendwann muß doch der erwachsene Mensch sich aus seiner teils selbstverschuldeten Puppe befreien. Handelt es sich also um eine Form von Verweigerung, die den Literaturbetrieb als Bruder der Familie, der Frauen und des Staates immer schon mit einschließt? Wird hier die hohe Kunst des Scheiterns zelebriert? Oder wollte am Ende einfach nur ein weiterer Roman geschrieben sein – und dafür das Tagebuch geplündert?

Auch das hätte seine eigene Traurigkeit, wäre aber immer noch interessant als Fundstück: als Versuch, am Anfang der neunziger Jahre die Leiche des idiosynkratischen Empfindungsdissidenten zu revitalisieren und – against all odds – zu einer hausgemachten kleinen Authentizität zurückzufinden. Die einsamen Helden der Welt- und Literaturgeschichte mit ihren hochgeschlagenen Kragen, sie mögen diskreditiert, durchschaut, analysiert, dekonstruiert sein, wie sie wollen – immer noch bleibt einem armen Jungen von heute nichts übrig, als das bißchen ernst zu nehmen, was ihm an Erfahrung und Sprache zur Verfügung steht. „Das rote Schiff“ wäre so gesehen ein Blick ins abgelegene Seitenzimmer des Post-New-Wave- Wohnzimmers: Die Party, die nie so toll war, ist vorbei, alles, was noch drinsteht, ist ein alter Kassettenrecorder, mit dem man die eigene dünne Stimme aufnimmt. Schön ist das nicht, mitunter immerhin rührend. Tatsächlich wird man einem Konvolut versuchter Selbstsensibilisierungen wie diesem am ehesten gerecht, wenn man es als Low-budget-Produktion begreift, mehr Demo-Tape als abgeschlossener Roman. Man bekommt es mit der Post zugeschickt oder hört es zufällig nachts auf irgendeinem Piratensender, gleich nachdem Beck eines seiner weniger bekannten Stücke gespielt hat; sagen wir „Blackhole“, „Soul Sucking Jerk“, oder, noch besser, „F...ing With My Mind“.

Andreas Mand: „Das rote Schiff“. Maro-Verlag, 232 Seiten, 28 DM