Eine deutsche Angelegenheit

Drei Gebote verletzt. Die Autobiographie des Holocaust- Forschers Raul Hilberg  ■ Von Mariam Niroumand

Trommeln und Rasseln sollen beim Purimfest den Namen des Judenhassers Haman übertönen, der alle Juden im Reich des Perserkönigs Kyros hinmetzeln wollte. Von Amalek, dem biblischen Archetyp des Antisemiten, heißt es donnernd im Zweiten Buch Mose: „Ich will das Andenken Amaleks ganz auslöschen unter dem Himmel.“ Raul Hilberg, Historiker und Autor der dreibändigen Geschichte des Holocaust, „Die Vernichtung der europäischen Juden“, glaubt, daß dieses „Verblassen des Täters“ eines von drei Geboten „jüdischen Denkens“ ist. In seiner soeben erschienenen Autobiographie beschreibt Hilberg, wie und warum er im Laufe seines Forscherlebens gegen alle drei so verstoßen mußte, daß man ihn oft verstoßen hat; warum er in Deutschland mehr geachtet wird als in den USA, wo er seit 1939 lebt, warum er in Israel eine Zeitlang Persona non grata war. „Der erste Fehler lautet“, so schreibt Hilberg, „daß sich alle Großprojekte jüdischen Forschens und Erinnerns auf Juden selbst beziehen müssen, ihre Lebensumstände und ihreErfahrungen.“ So zum Beispiel sei das United States Holocaust Memorial Museum in Washington konzipiert, in dessen Beirat Hilberg sitzt. Aus seiner Forderung, eine Wand mit zwanzig Porträts von bekannten und weniger bekannten Tätern aufzustellen, wurde lediglich eine Galerie mit Fotos von Angeklagten – im Einklang mit der auf den Sieg der amerikanischen Vernunft ausgerichteten Erzählung des Museums. Als einer der Direktoren, Rabbi Seymour Siegel, bei einer Rede über Adolf Eichmann sagte: „Sein Name sei ausgelöscht“, konnte Hilberg nur an die zahllosen Stunden denken, die er in staubigen Archiven verbracht hatte, um den Vornamen eines Bürokraten herauszusuchen, der einen Befehl nur mit „Klemm“ oder „Kühne“ unterschrieben hatte.

An vielen Stellen merkt man dem Buch Hilbergs Herkunft aus dem Wien Sigmund Freuds an; die Strenge, das distanzierte, aber vermaledeit verwobene Verhältnis zum Judentum; die mit Zähnen und Klauen verteidigte Wissenschaftlichkeit, das zärtliche Verhältnis zu Fußnoten; die graue Depression, die einem auch von den paar Fotos des jungen und des gealterten Hilberg entgegenschlägt.

Ein zerknittertes Foto aus dem Ersten Weltkrieg zeigt den Vater, einen Feldwebel, der, wie er seinem Sohn sagte, die Uniform nur trug „für die jüdische Ehre“. Einmal sei er mit einer Patrouille im Niemandsland einem russischen Spähtrupp in die Arme gelaufen. Schnell habe man erkannt, daß in beiden Trupps mehrere Juden waren, habe sich an einen Granattrichter gesetzt, Rum und Brot getauscht und sich schließlich Lebewohl gesagt.

An Gespräche zwischen den Eltern kann Hilberg sich nicht erinnern; seine Mutter, die aus Galizien kam, war eine von achtzehn Kindern, die keine große Wahl hatte, einen Heiratsantrag abzulehnen. Man hört förmlich den Suppenlöffel im Teller schaben, in einer Wohnstube mit Vitrinen aus Ebenholz. Im Streit nannte sie ihren Mann „Graf Potocki“, ein polnischer Herrn, der den Juden von Bubatsch Sonderrechte eingeräumt hatte.

Als Hilberg zwölf war, ging alles Schlag auf Schlag. Bei einer Großrazzia gegen Juden wurde der Vater festgenommen, sah ein „D“ hinter seinem Namen und stieß, in der blitzhellen Ahnung, für Dachau vorgesehen zu sein, so schnell er konnte die Regimenter hervor, in denen er gedient hatte. Man ließ ihn; aber von da an trat er sämtliche Autorität an die Mutter ab, weil er die Familie nicht mehr allein ernähren konnte.

Warum Hilberg sich so auf die Täter konzentriert hat, erhellt auch aus der Geschichte seiner beiden Onkel: Der eine, Josef, war ein Simulant, der vom Vater eine Zeitlang durchgefüttert worden und dann in Vichy gelandet war, der andere, Jacob, hatte auf der Seite der Deutschen im Ersten Weltkrieg so lange gekämpft, bis er fast taub nach Polen zurückkam. Beide wurden ermordet. „Der Holocaust ist eine deutsche Angelegenheit, nicht das Ergebnis jüdischen Handelns oder Unterlassens“ – welche andere Einsicht sollte aus der Kenntnis dieser Unentrinnbarkeit folgen? Merkwürdig, daß Hilberg sich dann in bezug auf die Rolle der Judenräte von ihr abwandte.

Der Autobiographie gelingt es nicht, diesen Widerspruch aufzulösen. Hilberg betrachtet die Judenräte als „verlängerten bürokratischen Apparat Deutschlands“, ohne dessen aktive Kooperation die Vernichtung in dieser Konsequenz nicht möglich gewesen sei. Er erweist sich ein weiteres Mal als Schüler Salo W. Barons, des ersten Inhabers eines Lehrstuhls für „Jewish Studies“ in den Vereinigten Staaten, wenn er diese Kooperationswilligkeit auf „Traditionen jüdischen Vertrauens auf Gott, Fürsten, Gesetze und Verträge“ zurückführt. Als hätte es sich bei dieser Strategie der Judenräte nicht einfach um das grundrationale Vertrauen in die ökonomische Bedeutung jüdischer Arbeit für die Deutschen gehandelt! Woher hätte die Ahnung kommen sollen, Arbeit wie Nichtarbeit würden in die Vernichtung führen?

Kein Wunder, daß Hilberg diese Überlegungen, während des Eichmann-Prozesses publiziert, an die Seite von Hannah Arendt führten, von der er sich heftig distanziert. Auf Podien wurden sie ausgepfiffen, in jüdischen Publikationen beschimpft, frühere Freunde wurden zu Feinden. Man verwehrte ihm den Zutritt zu israelischen Archiven, vor allem nachdem Arendt ihn, zum Teil ohne Hilberg als Quelle anzugeben, als Beleg für ihre These benutzt hatte, die jüdische Führung hätte unzählige Todesopfer verhindern können, wenn sie chaotisiert, die Listen nicht ausgefüllt, zu Flucht und Sabotage aufgerufen hätte. Daß sie beide nicht einfach gegen ein „jüdisches Gebot“ verstoßen haben, sondern sich womöglich auf ihre Weise gegen die Aporie gewehrt haben, vor der Holocaust-Forscher ja genauso stehen wie die, die nur einen israelischen Kibbuz einweihen wollen, kommt Hilberg nicht in den Sinn. Gleichzeitig hat er natürlich völlig recht, wenn er sich allen Versuchen, „der Katastrophe etwas Erhebendes abzugewinnen“, widersetzt: „Wenn relativ vereinzelte, episodische Widerstandsakte als typisch dargestellt werden, dann verschwimmt ein Grundmerkmal der deutschen Maßnahmen. So stellt man sich die Judenvernichtung kaum noch in ihrer Entwicklung vor, sondern die krasse Wirklichkeit der gnadenlosen Tötung von Männern, Frauen und Kindern verwandelt sich in das eher geistig vertraute Bild eines – wie immer ungleichen – Kampfes zwischen Gegnern.“

Claude Lanzmann fand Hilberg, als dieser gerade damit beschäftigt war, die Tagebücher Adam Czerniakows, des Vorsitzenden des Warschauer Judenrates, für eine Übersetzung ins Amerikanische zu bearbeiten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hilberg fast ein Vierteljahrhundert, Lanzmann etwa zehn Jahre mit der Erinnerung an den Holocaust verbracht; Hilberg konnte die Diktion Heydrichs von der Görings unterscheiden, so intim war er mit ihren Hinterlassenschaften, und Lanzmann hatte ihm Zugpläne mitgebracht. In Umkehrung des Adorno-Diktums waren sich beide einig, daß nur die Kunst Formen bereitstellt, die der Darstellung des Holocaust angemessen sind. An Beethovens Sinfonien, an der „Eroica“ vor allem, hat Hilberg den Aufbau seines 1948 begonnenen, 1961 publizierten Werks „The Destruction of the European Jews“ orientiert, schon weil „ich nicht tausend Seiten lang schreien konnte“. Es ist schon irgendwie überraschend, ihn vom längsten Kapitel seines Buches, dem über die Deportationen, als seinem „Andante“ sprechen zu hören. Dann wieder paßt es zu der eisernen Sukzession von Kennzeichnung, Konzentration, Vernichtung der Juden – ein Schema, das Hilberg synchron durch die Geschichte wie auch diachron durch die verschiedenen Regionen verfogt hat. Nur dieses Schema konnte ihm erklären, daß die vier disparaten Machtmaschinen des Nazisystems (an einen Zentralbefehl glaubt er nicht) so reibungslos ineinandergreifen konnten. Dazu kommt das Prozedere der Entscheidungsfindung: aus Gesetzen wurden Verordnungen, daraus Bekanntmachungen, schriftliche Befehle, mündliche Befehle und schließlich befehlsloses Handeln – womit Hilberg die Partitur auch vertikal, bis zum einzelnen Beamten „mit Gespür für den tieferen Sinn der Gesamtoperation“ durchspielen konnte.

Kein Wunder, daß Raul Hilberg bis heute Formeln wie „unmenschliches Verbrechen“ ein Greuel sind. Kein Wunder aber auch, daß Lanzmann ihm, nachdem er Hilberg beim Lesen aus den Tagebüchern des Warschauer Judenratsleiters gefilmt hatte, sagte: „Du warst Adam Czerniakow!“

Raul Hilberg: „Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust- Forschers“. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. S. Fischer Verlag, 175 S., geb., 34 DM