Der gute Mann von Haiti

Brian Moores Schlüsselroman über den haitianischen Ex-Präsidenten Aristide  ■ Von Bernhard Robben

Brian Moores achtzehnter Roman, „Es gibt kein anderes Leben“, beginnt, wie fast jede Heiligenlegende, mit einem Zufall. Père Paul Michel, Priester des Albaneser-Ordens, reitet eines Tages auf einem Esel über die trostlosen Dörfer einer Karibikinsel und entdeckt in einer Armenschule ein hochbegabtes Kind. Beinahe achtlos überlassen ihm die Eltern das Kind wie einen Welpen aus einem allzu großen Wurf. Der Kleine heißt Jean-Paul Cantave, genannt Jeannot; wenige Tage später wird er ins Collège der Hauptstadt aufgenommen, ein schwarzes Kind unter den hellhäutigen Mulatten der Elite. Père Paul führt das Kind durch seine neue Welt, zeigt ihm den weißen Präsidentenpalast, größer als das Weiße Haus in Washington, und La Rotonde, die Slums der Hauptstadt, das schwarze Herz von Port Riche. Soweit der Zufall; der Rest ist Leidenschaft, Fanatismus, Politik und atemlose Spannung.

Man muß nur wenige Seiten in diesen Roman von Brian Moore hineinlesen, um unter dem fiktiven Überwurf des Schauplatzes die Konturen Haitis zu erkennen. Die Karibikinsel Ganae, heißt es, als Père Paul sich an die Anfänge seiner Zeit im Collège erinnert, ist arm wie sonst nur ein afrikanisches Land. Achtzig Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten, die Mulatten dagegen frönen dem französischen Luxus. Hoffnung auf Änderung versprach die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten. Doch der Landzahnarzt Jean-Marie Doumerge (unschwer als Haitis Diktator François Duvalier zu entschlüsseln, ehemals Landarzt und „Papa Doc“ genannt) führte das Wort Demokratie zwar im Munde, zog es aber vor, sich nicht auf das Volk, sondern auf die bleus zu verlassen, Männer in ebensolchen blauen Overalls, wie sie die Tonton Macoutes, die „Onkel Menschenfresser“ trugen. Die Geschichte Ganaes „ist wie eine billige Schallplatte. Eine Zeitlang spielt die neue Melodie, dann bleibt die Nadel in einer Rille hängen, der Tonarm entgleist und rutscht von der Platte. Jeder ganaesische Regierungschef tritt sein Amt mit dem Versprechen an, die Verhältnisse zu ändern. Die meisten versuchen es gar nicht erst. Aber die wenigen, die es versuchen – nun, denen geht es wie der Schallplatte. Die Nadel bleibt in einer Rille hängen.“

Jeannot jedenfalls kann das Armutsviertel La Rotonde (Cité Soleil) nicht vergessen. Das Elend ist unfaßbar, Hunger, Krankheiten, Dreck, kein Strom, kein Wasser, Wellblechhütten und Hoffnungslosigkeit. Er wird Priester, weil er den Armen helfen will, aber die Kirche, das ist für ihn nicht der feiste Erzbischof, der mit der Macht paktiert, die Kirche, das ist das Volk. Und das Volk hört auf Jeannot, wenn er mit sanfter Stimme das Recht auf ein anständiges Leben fordert. Es versammelt sich in seiner Kirche, diskutiert, lernt, einigt sich, und die Kirche wird immer voller. Das mißfällt der Macht, und es mißfällt dem Erzbischof; die Kirche wird überfallen und in Brand gesteckt, Jeannot aus dem Orden der Albaneser entlassen.

Wer noch nichts davon wußte, hat in diesen Tagen vielleicht in einem Fernsehportrait des Père Aristide die kleine gelbweiße Kirche in der Cité Soleil nach jenem Anschlag gesehen, dem Aristide nur knapp entrinnen konnte. Aristide, denn niemand anderes verbirgt sich hinter dem Jungen, der einmal auf einem Esel in die Hafenstadt Port Riche (Port-au-Prince) geritten kam, wurde aus dem Salesianer-Orden ausgeschlossen, da Rom seine sozialrevolutionäre Befreiungstheologie mit der Kirche unvereinbar fand. Schließlich lag dem Vatikan die Macht immer schon näher am Herzen als das Schicksal der Armen. Und vom Tod versteht die Kirche von alters her mehr als vom Leben. Für die Armen aber bleibt Aristide der „Papa“, und auf Kreolisch denkt man dabei an den Vater, an den Messias, an Jesus.

Jeannots Geschichte wird in einer langen Rückblende von dem weißen Frankokanadier Père Michel erzählt. Er hat Jeannot nicht nur aus den Bergen in seine Schule geholt, er hat ihn auch sein Leben lang begleitet. Nichts könnte nun kitschiger sein, als den Befreier der Unterdrückten zu verklären, doch geschickt bindet Brian Moore in detailreicher Erzählweise die Figur des jungen strahlenden schwarzen Revolutionärs an die Erinnerungen seines alten, zweifelnden weißen Mentors; ein Paso doble auf neokolonialem Parkett beginnt. Wie gern hätte Père Michel an den Erlöser geglaubt, an den heiligen Jeannot, doch immer wieder drängt sich ihm die Frage auf, ob die Religion in die Politik hineingetragen werden darf. Außerdem plagen ihn die letzten Worte seiner Mutter, die auf dem Sterbebett ihren Glauben verliert und ihrem Sohn verrät: „Es gibt kein anderes Leben. Gib den Priesterberuf auf, sofort!“ Nur dieses Leben zählt, die Ewigkeit entschuldigt kein Leiden, keine Armut.

Roman und Wirklichkeit verweben sich nun immer enger ineinander, um sich erst auf den letzten Seiten wieder in unterschiedliche Enden aufzulösen. Jeannot gelingt, was niemand für möglich gehalten hätte. Als nach dem Tod des Diktators Doumergue unter General Macandal Neuwahlen ausgerufen werden, läßt sich Jeannot als Kandidat der Sozialdemokratischen Partei aufstellen und gewinnt die Wahl zum Präsidenten haushoch. Mit einer Schar junger, ehrgeiziger Anhänger zieht er in den überdimensionierten Präsidentenpalast. Doch ein einzelner Mann kann keine Wunder vollbringen, auch wenn sich Mythen und Legenden um diesen Mann zu ranken beginnen, der gegen das Erbe von zweihundert Jahren Neokolonialismus, Rassenhaß, Korruption und Mißwirtschaft aufstand. Und in diesem Augenblick seines Lebens, als er die Macht in Händen hält, zeigt sich eine nur allzu menschliche Schwäche im Charakter des Père Jeannot: Er predigt Rache statt Vergebung.

Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Jean-Bertrand Aristide wurde nach nur acht Monaten Regierungszeit von putschenden Militärs aus dem Land vertrieben. Wir wissen auch, daß es eine Rede war, die ihn die Sympathien des Auslands gekostet hat. Im Roman heißt sie die Rede der Macheten. „Ihre Zeit ist kurz“, predigt Jeannot seinen Armen über die Verlierer der Wahl, die Verbrecher von gestern. „Ihr Tag ist zu Ende. Sie sind gescheitert. Also geht nun auf die Straßen! Freut euch! Ihr seid das Volk. Ihr habt die Macht. Gebraucht sie!“ Aristide war da deutlicher. Als man Getreuen der Tonton Macoute die berüchtigten „Halsbänder“ umlegte, mit Benzin gefüllte und in Brand gesetzte Reifen, fand er das „sehr hübsch“ und auch, daß es „sehr gut rieche“. Natürlich ist Aristide Jeannot, aber er ist es natürlich auch nicht.

Auf Ganae gibt es den Brauch, den Toten ein letztes Mahl zu bereiten. Da sitzen sie dann frisch gewaschen, im sauberen Hemd, den Hut verwegen in die Stirn geschoben, Zigarette im Mundwinkel, unter den fröhlichen Trauernden, jasminbehängt, einen Teller mit Bohnen und Reis auf dem Tisch. Und diese Toten rücken zu Jeannot auf, sie bedrängen ihn. Sie fragen, ob er recht daran getan hat, die Massen der Armen gegen die bewaffneten Soldaten und bleus auf die Straße zu schicken. Legitimiert das Ziel die Mittel, darf man Gewalt predigen? Darf Jeannot, den das Volk für den Mesiah hält, zum offenen Kampf aufrufen, wenn Tausende dabei ihr Leben lassen weden? „Vom Fanatismus zur Barbarei“, mahnt ihn ein Freund mit Diderots Worten, „ist es nur ein kleiner Schritt.“

Der Roman bleibt bis zur letzten Seite spannend, daran ändert sich auch nichts, wenn nun verraten wird, daß sich Jeannot an seinem Ende zur Legende verflüchtigt. Wie er sich aus der Macht der Junta befreit, wie er vor ihr flieht, verlassen, gehetzt, erschöpft, das sei allerdings nicht erzählt. Verschwiegen bleibt hier auch die wilde Geschichte von der schönen Caroline Lambert, der einzigen Liebe des nun greisen Père Michel. Und vielleicht läßt sich nicht einmal eine Ahnung wecken von jener leisen Trauer und jener lauten, heißen Hoffnung, die dieses Buch durchzieht. In seiner letzten Predigt jedenfalls ruft Jeannot seinem Volk zu: „Die Toten sind unsere Führer. Ihr, und nur ihr könnt mit Gottes Hilfe und im Gedenken an die Toten unsere Freiheit gewinnen. Das wird weder an einem Tag geschehen noch in einem Jahr. Es wird weder durch Aufstände geschehen noch durch ein Parlament von Narren.“ Und erst recht nicht, so möchte man heute hinzufügen, durch eine Armee, die das Land besetzt, mit der Verbrecherjunta zusammenarbeitet, Greuel ungesühnt läßt, keinerlei Sympathien für die Anhänger Aristides hegt und den „Papa“ nur vielleicht, vielleicht aber auch nicht zurückkehren lassen will.

Brian Moore: „Es gibt kein anderes Leben“. Aus dem Englischen von Otto Bayer. Diogenes Verlag, 272 Seiten, geb., 36 DM