Französischer Benjamin

■ Jacques Ranciere über die Poetik des Unpoetischen in der Historiographie

Als die französischen Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch Ende der zwanziger Jahre eine Zeitschrift mit dem wenig programmatischen Titel Annales ins Leben riefen, ahnten sie noch nicht, daß sie damit auch einer zukünftigen Historikerschule den Namen gaben. Sie hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu voller Blüte entfaltet und ist inzwischen fast zu einem Synonym für theoretisch anspruchsvolle, interdisziplinär aufgeschlossene Historiographie geworden. Die kopernikanische Revolution, die man den Gründervätern der nouvelle histoire rückblickend gerne zuschreibt, bestand darin, daß sie der überkommenen Ereignisgeschichte den Krieg erklärten und deren drei Götzen, Politik, Chronologie und Individuum, stürzten.

Mit seinem neuen Essay, „Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens“, hat der französische Philosoph Jacques Rancière nicht nur die erste Metageschichte der Annales geschrieben, sondern auch den blinden Fleck, das eigentlich Ungedachte dieses noch keineswegs abgeschlossenen historiographischen Abenteuers ins Bewußtsein gerückt. Was zunächst so aussieht wie der Versuch, Hayden Whites großangelegte Poetologie des historischen Wissens über die Grenzen des 19. Jahrhunderts hinaus bis in die Gegenwart fortzuschreiben, entpuppt sich schon bald als das viel radikalere Unternehmen, über die Analyse stilistischer Merkmale und paradigmabestimmender „Urszenen“ der nouvelle histoire zu ihrer Archäologie im Sinne Michel Foucaults vorzudringen. Denn wie methodisch reflektiert die Annales-Historiker auch zu Werke gingen, die Paradoxie, die am Grunde ihrer stupenden Produktivität lag, vermochten sie nicht zu erkennen: Das szientistische Selbstverständnis, mit dem sie in ihren theoretischen Verlautbarungen allzugern kokettierten, die Polemik, mit der sie die Geschichtswissenschaft gegen die literarischen Versuchungen des Geschichtenerzählens und die poetischen Launen der Sprache feien wollten, hinderte die „neue Geschichte“ daran, die paradoxe Poetik des Nichtpoetischen ihrer eigenen Geschichtsschreibung zu entdecken.

Am epistemologischen – wie am politischen – Ursprung der neuen Geschichte steht der Königsmord. Emblematisch inszeniert wird er von einem weiteren Heroen der Annales, Fernand Braudel, in seinem monumentalen Werk „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“. Die Art und Weise, wie Braudel das Ereignis des Todes Philipps II. in diesem Werk plaziert, nämlich bewußt außerhalb der chronologischen Reihenfolge an den Schluß des Buches, soll natürlich zunächst anzeigen, daß dieses Ereignis für die neue Geschichte keine signifikanten Status hat: „Der Tod des Königs bedeutet, daß die Könige als zentrale Gestalten und Mächte der Geschichte tot sind.“ An die Stelle des Königs tritt ein neues, anonymes historisches Subjekt, an das Braudel seine wissenschaftliche Rede jedoch bezeichnenderweise nicht direkt adressiert. Der Zerfall des traditionellen politischen Körpers hat offenbar eine derartige Zersplitterung der souveränen Attribute bewirkt, daß die freigesetzten „Massen“ nicht ohne weiteres die Nachfolge des Königs antreten können: Vielmehr können sie dies nur unter der Bedingung, daß sie sich einer neuen symbolischen Einheit unterwerfen, die die Möglichkeit wissenschaftlicher Rede wie demokratischer Politik gleichermaßen garantiert. Braudel findet das Symbol für eine solche Einheit in der Geographie und demonstriert mit dieser Anleihe aus einer „Raumwissenschaft“ noch einmal sein ganzes Mißtrauen gegen die Flatterhaftigkeit des Ereignisses, das das Material der traditionellen Geschichte abgab. Das Mittelmeer symbolisiert eine komplexe historische Wirklichkeit: einen spezifischen Zivilisationsraum, eine „lange Dauer“ unterhalb der hektischen Ereignisgeschichte, das Leben der einfachen Menschen, der territorialisierten, guten Masse und schließlich die ökonomische Dynamik der werdenden kapitalistischen Weltwirtschaft.

Alles dies ist das Mittelmeer für die neue gelehrte Historie, vor allem aber besitzt es eine bestimmte Farbe; es ist über Jahrtausende hinweg Gegenstand intensiver poetischer Aktivitäten gewesen, die ihm einen bestimmten Status in der kollektiven Phantasie verliehen haben: der König muß sterben, weil er „nicht weiß, was das Meer bedeutet“, er versteht die modernen Historiker nicht, wenn sie ihm darzulegen versuchen, daß die von ihm ausgehenden Haupt- und Staatsaktionen wenig mehr als ein Gekräusel der Wellen auf diesem Meer gewesen sind, er versteht weder die historische Potenz dieses Meeres, da er doch sich selbst als den Ursprung aller historischen Aktivität ansieht, noch hat er einen Sinn für die „Bilder von Licht und blauem Wasser“, die das Mittelmeer für uns heraufbeschwört. Aber Rancière zeigt, daß es trotz allem einen Punkt der „negativen Solidarität“ zwischen dem in seinen Papieren, den Akten und Depeschen der Diplomaten vergrabenen König und dem neuen Historiker gibt, der seine Daten den Wissenschaften des Raumes, des Verkehrs, der Population und der kollektiven Tatsachen entnimmt.

Ein „Exzeß der Wörter“, die antimonarchische, republikanische Propaganda, die, wie bereits Hobbes hellsichtig bemerkte, ihre Überzeugungskraft der Rhetorik antiker und biblischer Vorbilder verdankte, ließ den Kopf des Königs rollen und warf die von ihm verantworteten sozialen und politischen Ordnungsprinzipien über Bord: In dieser Politik des sprachlichen Exzesses, die von denen getragen wurde, die nach jahrhundertelangem Schweigen plötzlich „begierig sind, zu schreiben, von sich zu erzählen“ (Braudel), liegt eine Gefahr auch für die Geltung jener neuen kollektiven Regelmäßigkeiten und Gesetze, zu deren Hüter sich die modernen Humanwissenschaften und die ihnen verbundene gelehrte Geschichte machen. Die „neue Historie“ muß dem König einen anderen als den schändlichen „Papiertod“ geben, damit die Autorität seiner Position auf diese übergehen kann, einen „guten Tod“, sie muß ihn posthum den Händen der „Armen“ entreißen, jener schlechten Massen, die „sich außerhalb ihres Orts begeben“, die, statt sich mit ihrem Status als neue Objekte der Wissenschaft zu begnügen, Subjekte der Geschichte sein wollen und daher „in sprechende Wesen zerfallen“.

Rancière analysiert zwei Modelle, die eine Erlösung der Geschichte von der Macht der Namen versprechen. Denn es sind die Namen, die, weil sie in dem unaufhebbaren Abstand entstehen, der die Wörter von den Dingen trennt, der Subversion immer aufs neue einen Schriftkörper geben, indem sie „in der Gegenwart die Stimme der Antike, im Alltag die Sprache der Prophetie oder der Dichtkunst erklingen lassen“ und auf diese Weise das Ereignis ermöglichen: Das Ereignis ist nämlich nichts anderes als der Effekt einer „ungebührlichen Überlagerung der Zeiten“ und „besitzt die Neuheit des Anachronistischen“. Das auf Hobbes zurückgehende monarcho-empiristische Modell verlangt daher konsequenterweise die Abschaffung der Namen, das heißt, dort, wo es, wie im Revisionismus der Französischen Revolution (Cobban, Furet), historiographisch virulent wird, aktualisiert es sich in der „Utopie einer Wissenschaft, deren Kategorien ihrem Gegenstand adäquat wären, weil sie genau in ihre Zeit fielen“. Die revisionistische Pointe ist, daß das Ereignis der Revolution selbst hätte ausbleiben müssen, weil für sein Eintreten in der historischen Wirklichkeit, so, wie sie der soziologische Blick uns heute zu sehen erlaubt, kein Grund bestand. Nichts von dem, was gesagt worden ist, ist geschehen, oder: Was im Modus des Ereignisses geschehen ist, ist vollkommen nichtig.

Aber es besteht noch eine andere Möglichkeit, mit dem Exzeß der Wörter, dem Papiertod des Königs umzugehen: Statt die Namen der Geschichte und diejenigen, die ihr Schicksal und ihre Hoffnungen in ihnen wiedererkennen, zu annihilieren, hat das von Jules Michelet erfundene republikanisch-romantische Paradigma der Historie eine wissenschaftliche Sprechweise ermöglicht, die das Gesagte nicht als nichtig abweist, sondern durch einen neuen Sinn substituiert,, der allerdings nur dem Historiker, nicht jedoch den geschichtlichen Akteuren zugänglich ist. Rancière ist der erste, der systematisch nachweist, daß Lucien Febvre keineswegs irrte, als er, für viele, die die neue Geschichte an den „Wappen und Insignien der Wissenschaftlichkeit“ zu erkennen meinten, sicherlich befremdlich, ausgerechnet Michelet als den Gründervater der Annales begrüßte. Vom Protagonisten der romantischen Geschichtsschreibung konnten die Annales-Begründer lernen, daß die Wahrheit dort ist, „wo die Worte nicht mehr auf Papier oder Wind geschrieben, sondern in die Textur der Dinge eingraviert sind“. Um der Wahrheit willen ist es nötig, die Oberfläche der Dinge zu durchstoßen, wo in der Tiefe eine bislang unbekannte Quelle der Signifikanz sprudelt. Das Geschwätz, das die historischen Ereignisse umgibt, muß zunächst zum Schweigen gebracht werden, wenn man ihren Sinn freilegen will: Einzig ein „stummer Zeuge“ ist für Michelet ein guter Zeuge, denn „nur das spricht wahr, was stumm ist“. Welche Geschichten hat diese paradoxe romantische Operation nicht ermöglicht: „die Entzifferung aller Denkmäler und aller Spuren dessen, was man materielle Zivilisation nennen wird“, die Geschichte der Mentalitäten ebenso wie „unsere Geschichtswerkstätten“, die noch in den abseitigsten Gegenständen und Verhaltensweisen eine eingeschriebene Botschaft entdecken.

Die an den Annales so auffällige Geographisierung der Historie, die auf Michelet zurückgeht, ist der sichtbare Ausdruck des für die „neue Geschichte“ konstitutiven Axioms, daß die „ortlose Stimme der Geschwätzigen“, das „stammelnde Leben“, nur erlöst werden kann, wenn sie als legitimer Ausdruck eines anderen Ortes erkannt wird. Auch die scheinbar abseitigsten, verrücktesten, häretischsten Wörter haben einen ihnen selbst undurchsichtigen Sinn, weil es einen Ort gibt, einen „beschrifteten“ Boden, einen symbolischen Raum, dem sie entspringen. Den Sinn zu territorialisieren heißt, „den Exzeß der Wörter und die Stimmen auf Erde und Meer, Ebenen und Bergen, Inseln und Halbinseln“ zu verteilen. Nun versteht man auch, warum die Annales-Historiker stets ein so intensives Interesse am Phänomen der religiösen Dissidenz hatten: Die Häresie, „die Gewalt, die durch das Buch, anläßlich des Buches entsteht“, ist nicht länger ein Krieg der Schrift gegen die Schrift, sondern vielmehr Ausdruck einer anderen, nämlich bäuerlich-archaischen Existenzweise, die ganz unmerklich und unabsichtlich, ohne alle theologischen Spitzfindigkeiten den orthodoxen Sinn verschiebt. Die Mentalitätengeschichte verwandelt den Häretiker in einen Heiden, indem sie seiner Stimme einen neuen, „immanenten Körper“ gibt, um so den Skandal vergessen zu machen, der in der Loslösung der häretischen Rede von dem ihr zugehörigen „Fleisch“, dem göttlichen Logos, bestand.

Immer bedarf es einer „ersten ,Mythologie‘, die für die Wechselbeziehung eines materiellen Raums mit einem Rederaum sorgt“. Für das Mittelmeer hat die Odyssee diese Funktion der poetischen Urschrift übernommen und auf diese Weise mit den Mitteln des Epos die Einheit eines Raumes festgelegt, auf den die Geschichtskraft des Königs übergehen kann. Aber dieser vorindustrielle, rurale Ort, der die symbolische Matrix für die historischen Untersuchungen der Annales-Schule abgibt, verliert seine Kraft zur Territorialisierung des Sinns in dem Augenblick, wo die neuen industriellen Dynamiken und die mit ihnen entstehenden neuen Massen-Subjektivierungen ihre Bindung an einen bestimmten Raum und an eine bestimmte Kollektivität (Volk beziehungsweise Nation) auflösen. Das Subjekt, das in den modernen demokratischen und sozialen Bewegungen entsteht, verdankt sich einer „Häresie neuer Art“, einer Häresie „ohne Religion, die sie knebelt, aber auch ohne Verfahren einer symbolischen Erlösung“. Deshalb, so vermutet Rancière, ist die Geschichte dieser Bewegungen auch noch nicht geschrieben worden, sieht man einmal ab von den „Erben der alten Chronisten und Hagiographen“ und einer Sozialgeschichte, die den Skandal dieser neuen, sozialen Häresie gerade verfehlt. Von den Annales wird man die Geschichte dieser Bewegungen jedenfalls nicht erwarten dürfen, zu sehr ist sie beschäftigt mit der Aufgabe, dem König einen guten Tod zu geben und die gelehrte Historie mit der republika

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nischen Politik des souveränen Volkes zu versöhnen, das die zerstreuten Attribute der monarchischen Souveränität neu zusammenfügt. So ist es denn auch kein Zufall, daß die Annales, die doch eine dem Zeitalter der Massen angemessene Historie sein möchten, fast ausschließlich von der Zeit der Könige, ja sogar der „wundertätigen Könige“ (Marc Bloch) sprechen und selten die Schwelle der Französischen Revolution überschreiten. Es gilt, für die Stimmen der neuen Häresie eine neue Poetik zu erfinden, deren Vorbilder Rancière vor allem im modernen Roman findet, etwa bei Virginia Woolf oder bei Joyce, dessen neuer Odysseus auf seinen Wanderungen durch Dublin „das christliche Lebensbuch und das heidnische Lebensbuch sich gegenseitig in Zweifel ziehen läßt“. Denn die Frage ist für den Historiker nie, ob er „Literatur machen soll oder nicht, sondern welche er macht“.

Rancières Buch, das anderen sicher Stoff zu einem Dutzend Büchern geboten hätte, quillt förmlich über vor Gedankenreichtum, ohne daß es irgendwo aus der Form ginge. Nicht nur die Art, wie sich Rancière virtuos literarische Stilmittel zur Steigerung der Komplexität seiner Argumentation zunutze macht, erinnert an Walter Benjamin, in erster Linie zweifellos an das „Trauerspielbuch“. Auch die Analysetechnik, die indirekte Art der Beweisführung: Rancière führt einen Indizienprozeß gegen die Annales-Schule. Das Interesse an scheinbar dekorativen, emblematischen Szenen, in denen die „neue Geschichte“ ein grundlegendes Paradox umkreist, das sie ansonsten verschweigt und das ihren Diskurs zuallererst möglich macht; die subtile Ironie, mit der Rancière die poetischen Operationen einer gelehrten Geschichte rekonstruiert, die sich doch von jeder Poesie, von allem „primitiv Epischen“ (Musil) fernhalten wollte: all diese Züge verdanken sich einer benjaminschen Inspiration.

Jacques Rancière – ein Walter Benjamin aus Frankreich: Der vorzüglichen Übersetzung des Buches durch Eva Moldenhauer ist es zu verdanken, daß nun auch der deutsche Leser die Triftigkeit dieses Urteils überprüfen kann. Friedrich Balke

Jacques Rancière: „Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens“. Übersetzt von Eva Moldenhauer, S. Fischer Verlag, 160 Seiten, geb., 38 DM