■ Berliner Identität
: Viele Orte

Wenn Bausenator Wolfgang Nagel derzeit von der zukünftigen Stadtentwicklung schwärmt, sieht man förmlich, wie ihm der Blick auf die Gesamtstadt trübe wird. Als taste er im Nebel, konzentriert sich bei ihm die Perspektive des „Neuen Berlin“ auf die Großprojekte entlang der Friedrichstraße. In den Randunschärfen tauchen allenfalls noch die Bauvorhaben an der Straße Unter den Linden, am Potsdamer Platz und am Alexanderplatz auf. Mehr sieht er nicht. Berlins kommende „Identität“ spielt sich für Nagel allein in der historischen Mitte ab, noch dazu auf der simplen Achse der Friedrichstraße. Hier ist für ihn Musike drin, plant ein internationaler Architekturzirkus auf Weltniveau Betonbuletten, pulsiert bald das Leben und klingeln die Kassen. Das wäre schön, fehlte da nicht ein Rest.

„Berlin ist viele Orte“, sagte einmal der frühere Baustadtrat Werner Düttmann. Identitäten finden sich im „westlichen Zentrum“ am Kurfürstendamm ebenso wie in Kreuzberg, Moabit und Pankow, Marzahn und selbst in Spandau. Die polyzentrale Stadtstruktur hat hier wie dort charakteristische Quartiere und eigene Kieze entstehen lassen, die ausgebaut und weitergebaut werden müssen. An den dezentralen Orten hat Berlin seine Stärken bewiesen, kulturelle und soziale Entwicklungen vorangetrieben. Das Zentrum war nichts ohne die Peripherie.

Nagels Identitäts-Taumel degradiert eine egalitäre Hauptstadtplanung und zieht den Bezirken Substanzen ab. Während drinnen die Baumeister planen – oder es zumindest versuchen –, regiert in den Vororten der Baukatalog, werden Ghettos verfestigt und Stadtzusammenhänge fallengelassen. Gleichzeitig fördert der Nagelsche Zentralismus den Ausbau einer City, die so nie war, sondern einmal der „Primus inter pares“. Wenn nun mit Großprojekten Büromassen als Identitätsbilder in die historische Innenstadt gehievt und Bruttogeschoßflächen für Business-Center inclusive ein paar Alibiwohnungen draufgesattelt werden, wird dem Zentrum alles fehlen, was es ausmacht: nämlich Lebendigkeit und Charakter. Rolf Lautenschläger

Siehe auch Bericht Seite 22