■ Short stories aus Amerika
: Der Haiti-Aufenthalt

Clintons Expedition nach Haiti hat in Amerika keine besondere Beachtung gefunden. Wenn man bedenkt, daß die USA wegen des „Sicherheitsrisikos“ einiger hundert Gauner fast in den Krieg gezogen wären, sollten doch wenigstens die Zungen der wichtigen Leute in Bewegung geraten sein. Aber das war nicht der Fall, und nicht weil das Thema uninteressant gewesen wäre. Nein, die Operation Haiti hat genug politisches Gewicht, um bei jeder Cocktail-Unterhaltung Verwendung zu finden, herrlich geeignet, um sich unwillkommener Gesprächspartner zu entledigen – und daraus sollte man schließen, daß das Thema Haiti häufig zur Sprache kommt. Neulich erzählte mir ein Kerl auf einer Party, er sei „ledig, 45, Anwalt und hetero“ und daher „ein Schnäppchen auf dem Markt“. Ich war beeindruckt und wandte mich sofort dem ethischen Dilemma einer Invasion zu. Er ging, um andere Frauen zu beeindrucken. Aber Clintons Exkursion nach Haiti wird kaum erwähnt – aus dem einfachen Grund, daß niemand weiß, wie man sie nennen soll. Und man kann nicht mit Sachkenntnis über etwas sprechen, für das man keinen Namen hat.

„Invasion“ paßt nicht, seit Jimmy Carter uns Cédras' Junta zu Freunden machte. „Friedenswahrungsmission“ erinnert die Amerikaner nur an das, was ihre Truppen nicht geschafft haben. Ich habe beschlossen, das Wort „Aufenthalt“ zu verwenden, wie bei Joseph in der Bibel. Sich aufhalten bedeutet, an einem Ort zu bleiben, sich dort aber nicht niederzulassen. Joseph und seine zwölf Brüder hielten sich in Ägyptenland auf und blieben etwa vierhundert Jahre. Irgendwie. Einige meiner Freunde halten mich für allzu pessimistisch. Die US-Regierung, behaupten sie, werde sich in Haiti ebenso verantwortungsbewußt verhalten wie in Somalia und sich auch dort nicht länger aufhalten.

Der Haiti-Aufenthalt, wie wir es nennen werden, war für die Haitianer bisher nicht besonders gut, da sie nach wie vor getötet und hingemetzelt werden. Er verspricht jedoch hervorragende Aussichten für Militärschneider. Ich habe das auf der Titelseite der New York Times gelesen. Anscheinend hat die haitianische Marine keine Schiffe, oder jedenfalls keine schwimmfähigen Schiffe. Aber sie hat wundervolle Uniformen, der Stolz der Regierung. Wenn sich die Regierung ändert, werden neue Uniformen gebraucht, um die neue Loyalität der Marine zu beweisen. Und deshalb habe ich eine bescheidene Summe in eine Firma investiert, die die paar Uniformen näht, die in der Karibik gebraucht werden. Es sind übrigens ziemlich viele.

Der haitianische Aufenthalt war auch für die amerikanische Gesundheitsversorgung eine gute Sache. Der Kongreß hat das Gesetz über die Gesundheitsversorgung abgelehnt. 38 Millionen Amerikaner bleiben unversichert, und die Gesundheitsversorgung für die Versicherten verschlechtert sich. Aber das Gesetz über die Gesundheitsversorgung scheiterte, während Clinton den Krieg gegen Haiti androhte. Und deshalb hat niemand die Sache mit der Gesundheitsversorgung zur Kenntnis genommen, jedenfalls nicht so, wie das ohne den Lärm um Haiti der Fall gewesen wäre. Sonst hätten die Amerikaner vielleicht zur Kenntnis genommen, daß sie in der Rangliste der Lebenserwartung hinter siebzehn anderen Ländern liegen, darunter Spanien, Griechenland und Israel. Und sie wären nervös und wütend geworden, was nicht gut wäre für die Gesundheit. (Deutschland liegt übrigens auf Platz 17, einen Platz besser als die USA, aber hinter Island, Schweiz, Schweden, Spanien, Griechenland und Israel, unter anderen. Japan steht auf Platz 1.) Wenn die Amerikaner wüßten, daß zwischen 1972 und 1989 die Krankenhausbelegung in 19 von 22 Industrieländern gestiegen ist, in den USA aber abnahm, dann könnte ihr Blutdruck steigen. Und für die Gesundheit wäre das nicht gut, besonders wenn man keine Versicherung hat, die für die Bluttests und Medikamente aufkommt. Wenn Amerikas Aufmerksamkeit darauf gelenkt würde, daß in den USA die Zahl der Psychiatrie-Betten zwischen 1960 und 1989 um 78 Prozent sank, verglichen mit einer Steigerung um 274 Prozent in Japan und einer Verdoppelung in Deutschland (in beiden Ländern bildet Obdachlosigkeit kaum ein Problem), dann könnten sie anfangen, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Und für die Gesundheit wäre das nicht gut, besonders bei solch kläglicher psychiatrischer Fürsorge. Wenn die Amerikaner wüßten, daß in ihrem Land auf 560 alte Leute nur ein Bett in einem Pflegeheim entfällt, im Vergleich zu einem Bett für 77 Menschen in Israel, oder wenn sie wüßten, daß Deutschland mit einem Drittel der Bevölkerung 29 Prozent mehr Pflegeheimbetten hat, dann könnten sie hinsichtlich ihrer Zukunft in Angst geraten. Und für die Gesundheit wäre das nicht gut. Zu Clintons haitianischem Aufenthalt fällt mir schließlich nur noch ein, daß es eine Geste des Schutzes ist. Da er wußte, daß er den Amerikanern keine bessere Gesundheitsversorgung liefern konnte, wollte Clinton eben dafür sorgen, daß wir nicht krank würden. Was die Soldaten angeht, die in Haiti verwundet werden, so ist das ganz in Ordnung. Das Militär hat eine ausgezeichnete Gesundheitsversorgung.

Schließlich ist Clintons haitianischer Aufenthalt auch noch gut für die Nonnen in San Antonio, Texas. Diese guten Frauen haben in der Kunstgalerie, die sie neben ihrem Konvent führen, auch etwas zu Aids ausgestellt. Dazu gehörten Skulpturen von Genitalien und ein Gemälde, auf dem sich ein Engel vor einem Altar mit Geschlechtsverkehr beschäftigt. Trotz ihres gottesfürchtigen Zwecks löste die Ausstellung Hunderte Beschwerden an Erzbischof Patrick F. Flores aus, darunter auch Drohungen mit Gewalt. Das Kunstwerk hätte sicherlich mehr Aufmerksamkeit – und mehr Gewalt – ausgelöst, wenn Clintons haitianischer Aufenthalt nicht die Nachrichten beherrscht hätte. So wurde die Geschichte im Seattle Post-Intelligencer verbuddelt. Schwester Alice Holden, die Leiterin der Kunstgalerie, blieb unbeschädigt und erzählte der weltlichen Presse, „Sexualität sei eine wunderbare Gabe Gottes“ – ein Zugeständnis der katholischen Kirche, dem sicherlich mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre, hätte nicht Clinton mit seinem Gelärme abgelenkt. Marcia Pally