Gibt es ein Recht auf Stillstand? -betr.: Volksentscheid, taz 16.10.94

Betr. Volksentscheid, taz 16.10.

Der „Verein zur Förderung des Petitionsrechtes in der Demokratie e.V.“ ist mit seiner Stellungnahme zum Volksentscheid über die Verfassungsrefom in einer schwierigen Lage. Ich zähle mal auf, was alles kommt, wenn die Verfassungsänderung angenommen wird, und was alles nicht käme, würde der Volksentscheid abgelehnt: Die Verankerung des Petitionsrechts in der Verfassung; die Einführung eines Bürgerantrages, mit dem etwa 10.000 BürgerInnen des Landes (oder 8.000 der Stadt>, AusländerInnen und Jugendliche ab 16 einbegriffen, ein Thema auf die Tagesordnung der Bürgerschaft bringen können; die Verdoppelung der Chancen für ein Volksbegehren durch Halbierung des Quorums; die Möglichkeit, ein Volksbegehren auf der Ebene der Stadt Bremen zu organisieren; die Einführung einer Informationspflicht des Senats gegenüber der Bürgerschaft (und damit der Öffentlichkeit), die Erweiterung der Rechte des einzelnen Abgeordneten. Das alles muß für einen „Verein zur Förde- rung des Petitionsrechtes“ doch einiges Gewicht haben.

Die Bedenken machen sich fest an der geplanten Änderung, daß zwei Drittel der Abgeordneten in Zukunft die Verfassung ändern können sollen – und die Bevölkerung in einem Volksbegehren – und nicht mehr nur die Alternative besteht: entweder einstimmig in der Bürgerschaft oder durch Volksentscheid. Dadurch werde dem Volk ein Recht genommen. Ja aber welches Recht ist es denn? Es ist doch wohl kein Zufall, daß dies Recht nur auf dem Papier existierte und seit 47 Jahren nicht in Anspruch genommen worden ist. Seit 1947 ist die Bremische Verfassung nur selten – und zwar einstimmig durch die Bürgerschaft – geändert worden: in der Hauptsache reine Anpassungen an das Grundgesetz. Das geltende Verfassungsänderungsrecht ist das Recht des Stillstandes.

Nur wer meint, jede Änderung in Zukunft könne nur schlechter werden als die geltende Verfassung, sollte am 16. Oktober mit „Nein“ stimmen. Wer der Meinung ist, daß erstens der Volksentscheid als Weg der Verfas- sungsänderung bleibt – auch in Fragen zum Beispiel der Lehrmittelfreiheit – und wer zweitens den demokratischen Kräften der Stadt die Fähigkeit zur positiven Weiterentwicklung unserer Verfassung zutraut, der sollte mit „Ja“ stimmen. Er kann dann schon im Winter das erste Volksbegehren etwa zu Verkehrsfragen organisieren.

Hermann Kuhn