Weitestgehend unbekannt

■ Heute vor fünfzig Jahren kam es im Konzentrationslager Auschwitz zu einem bewaffneten Aufstand der Häftlinge. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Häftling Sigmund Sobolewski, der den Aufstand als Leiter der ...

Daß es im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz selbst einen bewaffneten Aufstand der Häftlinge gegeben hat, ist auch heute, fünfzig Jahre danach, nahezu unbekannt. Lange schwelte der Konflikt. Die Häftlinge im Stammlager organisierten ihren Widerstand, ausgerichtet auf das Überleben und den „Tag X“ mit Blick auf die näherrückende Front. Die jüdischen Mitglieder der Sonderkommandos dagegen hatten tagtäglich die Spuren des nationalsozialistischen Massenmordes zu beseitigen, ohnmächtig, sich zu erheben oder zu widerstehen. Am 7. Oktober 1944 kam es in Auschwitz-Birkenau dann zum Aufstand. Sigmund Sobolewski, der mit dem ersten Transport aus dem polnischen Tarnow am 17. Juni 1940 nach Auschwitz deportiert wurde, nachdem die Deutschen seines Vaters, eines polnischen Hauptmanns, nicht habhaft werden konnten, erhielt die Häftlingsnummer 88. Der damals Neunzehnjährige erlebte den Aufstand als Leiter der Lagerfeuerwehr.

taz: Wie sah die Widerstandsbewegung im Lager aus?

Sigmund Sobolewski: Es gab zwei Widerstandsbewegungen: auf der Rechten die der polnischen Exilregierung, die in England saß, und zur Linken der kommunistische Widerstand. Der war, glaube ich, viel aktiver. Ich selbst war Mitglied der Häftlingslagerfeuerwehr. Als Leiter der Gruppe 2 hatten wir mit drei Pumpenwagen nicht nur die Feuer im Lager zu löschen, sondern alle Brände im Umkreis von 50 Kilometer um Auschwitz.

Der Aufstand der Häftlinge des Sonderkommandos ist meiner Meinung nach das wichtigste Ereignis in der ganzen tragischen Geschichte von Auschwitz, und ich bin sehr enttäuscht darüber, daß meine katholischen Freunde sich immer noch weigern, diesen Aufstand zu ehren. Wir kämpfen seit vier Jahren darum, daß dafür eine Gedenktafel in Auschwitz angebracht wird. Was nicht geschieht, obwohl jedes Jahr neue Tafeln für Polen, für Katholiken, für Priester aufgestellt werden.

Wie haben Sie den 7. Oktober 1944 erlebt?

Am 7. Oktober, das war ein Samstag, leitete ich die Lagerfeuerwehr. Am Nachmittag, ungefähr um dreiviertel eins, ertönte die Lagersirene. Wir sind schnell zu unseren Wagen gelaufen und haben uns nicht, wie militärisch üblich, erst einmal alle in einer Kompanie versammelt, sondern rannten, einzeln und ohne anzuhalten, durch das Tor und riefen dem diensthabenden SS-Blockführer von weitem unsere Häftlingsnummer zu. Die meisten SS-Wachen kannten uns sowieso persönlich.

An diesem Nachmittag fiel uns eine außergewöhnlich große Anzahl von SS-Wachen auf, alle mit Helmen, und das war ein Zeichen, daß etwas Schlimmes passiert war. Die SS-Wachen hatten bereits ihre Militärlastwagen und Motorräder bestiegen. SS-Hauptscharführer Georg Engelschall, der im Jahre 1989 in Bayern durch einen Stromunfall starb, flüsterte uns zu: „Schlimmer Ärger im Waldkrematorium.“ Die Deutschen haben die Krematorien VI und V Waldkrematorien genannt. Die erste Gruppe wurde am Haupteingang von Auschwitz-Birkenau aufgehalten, aber wir sind mit unseren Wagen gleich durchgefahren und haben Wasser aus einem Teich in der Nähe des Krematoriums IV gepumpt. In diesen Teich wurde auch von der SS die Asche der Opfer aus den Waldkrematorien gekippt. Die Gruppe 1 versuchte in der Zwischenzeit, das Krematorium I zu retten, aber das Dach war bei unserer Ankunft schon heruntergestürzt.

Während ich unsere Einheit, bestehend aus neun Feuerwehrmännern, leitete, hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig umzuschauen. Ich sah kleine Gruppen nackter Juden, die aus den als vorübergehende Gefängnisse dienenden, leicht beschädigten Gaskammern herausgeführt wurden. Sie wurden zu einem großen Pinienbaum geführt; dieser Baum steht heute noch dort. Man befahl ihnen, sich mit dem Gesicht nach unten auf die etwa 30 bereits toten Körper zu legen. SS- Oberscharführer Wilhelm Claussen, der einmal Schiedsrichter war, als ich mit einem deutschen Capo boxte, und den ich gut kannte, tötete die auf dem Boden liegenden Juden mit einem Genickschuß. Claussen trug lederne Handschuhe und rauchte gemütlich eine Zigarette, während er auf die nächste Gruppe von Opfern wartete. Seine kniehohen Gummistiefel trieften von menschlichem Blut. Das war das einzige Mal in meiner viereinhalbjährigen Gefangenschaft in Auschwitz, daß ich den Massenmord an Juden so nahe und als Augenzeuge miterlebt habe.

Sie waren nicht für Arbeiten unmittelbar in den Krematorien eingesetzt?

Ich war ein normaler Häftling. Damit war nur ein Spezial-Sonderkommando, bestehend aus jüdischen Häftlingen, befaßt, die alle zwei Monate ermordet worden sind. Bis zur ungarischen Aktion, bis März 1944, bevor die 500.000 ungarischen Juden in Auschwitz umgebracht worden sind, haben die Mitglieder des Sonderkommandos im Lager gelebt. Später wurden sie auf den Dachböden der Krematorien II und IV untergebracht. Das Krematorium IV war damals aufgrund technischer Probleme nicht im Betrieb. Nur die Gaskammern wurden benutzt, um Leute zu ersticken.

Was geschah, nachdem Sie das Feuer gelöscht hatten?

Wir waren alle sehr aufgeregt. Wir hatten große Angst, daß die SS uns jetzt als Geheimnisträger auch ermorden würde. Später, am 7. November 1944, wurde die gesamte polnisch-katholische Feuerwehr von Auschwitz ins Lager Sachsenhausen verlegt. Die aus Sinti und Roma bestehende Lagerfeuerwehr von Sachsenhausen ging nach Auschwitz ins Gas. Wir dienten im Lager Sachsenhausen als Lagerfeuerwehr, bis ich am 3. Mai 1945 durch US-Truppen befreit wurde.

Heute diskutieren wir diesen Aufstand in Auschwitz als Ergebnis der gescheiterten Koordination zwischen den jüdischen Häftlingen der Sonderkommandos und dem Widerstand im Stammlager. Haben Sie damals von diesem Streit zwischen dem organisierten Widerstand, der auf den Tag X hinarbeitete, und den Häftlingen des Sonderkommandos, die sagten, heute müssen wir den Aufstand wagen, es sind wieder soundso viele Menschen getötet worden, etwas mitbekommen?

Ein Häftling, den ich kannte, war Andreiszik, ein Rechtsanwalt aus Polen. Er hatte die Lagernummer 89, wir waren am selben Tag verhaftet worden. Andreiszik arbeitete als Mittelsmann zwischen dem Sonderkommando und dem polnischen Untergrund. Ich weiß ganz genau, daß Tausende von Dollars von den Sonderkommandos zur polnischen Seite verschoben worden sind. Die hat das Geld benutzt, um die SS-Wachen zu bestechen. Einen Monat später verschwand Andreiszik aus dem Lager – ich glaube, es war Juli oder August. Für 20.000 Dollar, so sagte man im Lager, verhalf einem jeder SS-Mann zur Flucht. Aber die polnische Bewegung hat dem Sonderkommando die versprochenen Waffen nicht besorgt. In Wirklichkeit hat sie es im Stich gelassen und den Aufstand mit Ausreden immer neu verzögert. Beispielsweise mit dem Hinweis, die russischen Truppen seien noch zu weit weg – so lange, bis die Juden denken mußten, die Hilfe von christlicher Seite käme nie. Außerdem – und das ist wenig bekannt – wurde Kaminski, der Kopf der Aufständischen, durch einen gewissen Mijetek Morawa an die SS verraten. Dieser Morawa wurde auch einmal drei Wochen lang in unserer Feuerstube einquartiert. Morawa war ein Spitzel der politischen Abteilung. Das war lagerbekannt. Auch den zweiten Aufstandsversuch hat er verraten.

Interview: Jochanan Shelliem