Betteln im Namen Gottes

■ Wie gewisse Koranschulen die Not der Dörfer ausnutzen

Aliou lebt Hunderte von Kilometern von Dakar entfernt in Senegals trockener Sahelzone, wo die Dörfer voneinander extrem isoliert sind und Infrastruktur kaum existiert. Alious Vater hat drei Frauen und ernährt dreißig Kinder – seine „Sozialversicherung“. Die Schule seines Dorfes ist als solche kaum zu erkennen, da es keine Lehrmaterialien gibt. Oft schickt der Lehrer Schüler nach Hause, weil sie ohne Kugelschreiber kommen – die nötigen 100 FCFA (30 Pfennig) wollten ihre Eltern nicht ausgeben. Das, was als Tafel fungiert, wird nicht benutzt, da die Kreide schon lange ausgegangen ist. Immer wieder werden Schüler von den Eltern per „mündlicher Erlaubnis“ vom Unterricht ferngehalten, um Feuerholz zu holen oder eine Erledigung im Nachbardorf zu machen.

Aliou kommt im Unterricht nicht mit. Sein Vater konnte die „Ordonnanz“ nicht bezahlen, jene Inventarliste des Lehrmaterials, die jeder Schüler zum Schuljahresbeginn kriegen soll und die aber nur gegen Bezahlung ausgestellt wird. Der Vater meint, sein Sohn habe „Besseres zu tun“; in einer Schule zu sitzen, wo nur französisch geredet wird, „ist nicht gut“. So wird Aliou nun zum Marabout des Dorfes gehen, der eine Koranschule hat: „Da denkt man wenigstens an Gott.“ Wichtiger ist: Bald wird der Marabout mit seinen Schülern in die leuchtende Hauptstadt Dakar ziehen, was die Eltern begrüßen. Im Dorf fällt wenig Regen, die Landwirtschaft ernährt die Menschen nicht, Saatgüter sind teuer geworden.

Was macht ein Marabout in Dakar mit seinen Dorfschülern? Er mietet für 30 Kinder eine Zweizimmerwohnung, die zur Schule umgewidmet wird; die Talibé-„Schüler“ müssen in der Nachbarschaft um Essen betteln und ihrem Marabout regelmäßig Geld abliefern. So sieht man in Dakar Fünfjährige auf den Straßen, die ihre tägliche Summe zusammenbetteln müssen, um körperliche Strafen zu vermeiden. Die meisten von ihnen werden die daara, die Koranschule, bald verlassen und ganz auf der Straße bleiben, wo sie die wachsende Zahl von drogenabhängigen Straßenbanden vergrößern. Eigentlich ist all das gesetzlich verboten, da Senegal die UNO-Kinderschutzkonvention unterzeichnet hat.

Den 20. April 1994 rief die Regierung zum „Talibé-Tag“ aus; etwa tausend junge „Schüler“ wurden zu einem Festessen ins Rathaus von Dakar eingeladen. Bewirkt wurde damit nichts. Nun will die UNO-Kinderschutzorganisation Unicef, in den Regionen Saint-Louis und Thiès, von wo offenbar die meisten Talibés nach Dakar kommen, Modell-Koranschulen fördern, die mit Baumaterial und Lebensmitteln unterstützt werden und zu ihrer eigentlichen Aufgabe, der Schulbildung, zurückkehren sollen. Um dafür auch das Interesse der Marabouts zu wecken, sollen die Schüler ein Handwerk erlernen, von dem sie später leben und auch die Koranschule weiter mitfinanzieren können. C.N.