Albaniens Jugend flieht

■ Nur ein Gerücht war nötig, um Tausende ihr Bündel schnüren zu lassen

Wien (taz) – Das Gerücht verbreitete sich in Windeseile: Im Hafen von Durres, so ging es von Mund zu Mund, lägen Schiffe, die jeden Ausreisewilligen nach Italien mitnehmen würden. Tausende Albaner machten sich auf den Weg: Mit Pferdewagen, im Taxi und zu Fuß strömten die Fluchtwilligen in die Hafenstadt. Doch dort wartete schon die Polizei auf die meist arbeitslosen Jugendlichen, und nach einer kurzen Personenkontrolle wurden die meisten mit Bussen wieder ins Landesinnere zurücktransportiert.

Unterstützung erhielten die albanischen Sicherheitskräfte von italienischen Kollegen, die seit dem Massenexodus vom März und August 1991 die Hafenregion hermetisch abriegeln. Damals stürmten etwa 20.000 Albaner italienische Frachtschiffe und erzwangen ihre Überfahrt nach Bari, doch dort wurden sie nach mehrtägiger Zermürbungstaktik und unter Einsatz von Schlagstöcken auf den gleichen Schiffen wieder in ihre Heimat zurücktransportiert.

Die Gründe sind die gleichen geblieben: Obwohl Albanien für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 11 Prozent aufweist und die wirtschaftliche Umgestaltung mit anderen ehemals sozialistischen Balkanstaaten Schritt hält, sehen viele Albaner nur in der Flucht einen Ausweg, um Armut und Elend zu entkommen. Hunderttausende sind arbeitslos, die Hälfte der drei Millionen Albaner lebt unter der offiziellen Armutsgrenze, und außer einer kleinen Klasse Neureicher hat kaum jemand etwas von den neuen Freiheiten.

Für alle Staaten außer Makedonien und Malaysia brauchen die Albaner ein Visum – ein Traum für viele. Denn Nachbar Griechenland schloß vor drei Wochen die Grenzen und verwies je nach Zählung zwischen 30.000 und 70.000 albanische Wanderarbeiter des Landes, nachdem die Regierung in Tirana fünf führende Mitglieder der hellenischen Minderheit wegen angeblicher Spionage zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt hatte.

Die albanische Regierung sieht hinter den Fluchtgerüchten „eine gezielte Aktion“ der oppositionellen Sozialistischen Partei, die danach trachte, die „junge Demokratie zu destabilisieren“. Man werde gegen alle vorgehen, die mit „Falschinformationen Panik erzeugen wollten“. Gemeint sind damit auch jene Kritiker, die Gesundheitsminister Cikuli vorwerfen, er spiele die derzeitige Choleraepidemie bewußt herunter und gebe die Zahl der Erkrankten und Toten zu niedrig an. Die Ausbreitung der Seuche sei gestoppt worden, heißt es offiziell. Die Jugendlichen in Durres sehen das anders: In ihren Dörfern sei die Cholera ausgebrochen, erzählen sie, und medizinische Versorgung gebe es nicht – ein weiterer Grund, jede Fluchtmöglichkeit auszunutzen. Karl Gersuny