Sektenselbstmord oder Mord?

Offene Fragen nach dem Tod von 48 Sektenmitgliedern in der Schweiz / Sonnentempler gelten als religiös-fundamentalistisch  ■ Von Karin Huser

Berlin (taz) – Wie ein Blitz hat der Fund von bisher 48 Leichen in die idyllische Landschaft der Westschweiz eingeschlagen. Nach dem Sektendrama in den Kantonen Wallis und Fribourg, bei dem die 48 Anhänger der Sonnentempel- Sekte verbrannten, bleiben immer noch viele Fragen offen. Was trieb die Sonnentempler zu dieser Wahnsinnstat? Gingen sie freiwillig in den Tod, oder wurden sie dazu gezwungen?

Gestern untersuchte die Walliser Polizei ein weiteres abgebranntes Chalet in der Nähe von Martigny, fand jedoch keine weiteren Todesopfer. Das Haus konnte zuvor nicht untersucht werden, da Einsturz- und Explosionsgefahr bestanden. Vor dem Chalet waren fünf Autos geparkt. Deshalb befürchtete die Polizei, es könnten sich im Haus noch weitere Leichen befinden.

Bis gestern nachmittag war immer noch unklar, ob die Sektenmitglieder freiwillig in den Tod gegangen oder ob sie unter Druck gesetzt worden waren. Unklar blieb ebenfalls, ob der Sektengründer Luc Jouret unter den Toten ist, oder ob er sich abgesetzt hat, wie verschiedentlich spekuliert wird.

Einer der bedeutendsten Experten für Sekten in der Schweiz, Jean-Francois Mayer, erklärte gestern, er habe einen Brief der Mitglieder des „Ordens des Sonnentempels“ erhalten. Der Inhalt des Schreibens bestätige die Selbstmordthese. So sei darin der Satz enthalten: „Wir befreien uns von einer Bürde, die von Tag zu Tag schwerer zu ertragen war.“

Mehr als hundert Sekten auf der ganzen Welt behaupten heute von sich, sie seien die direkten Nachfolger des Tempelordens, der im Jahr 1312 unter Philipp dem Schönen aufgelöst worden war. Die Sonnentempel-Sekte ist eine davon. Sie gründete sich 1952. Sektenoberhaupt ist der 47jährige schweiz-kanadische Doppelbürger Luc Jouret, der sich bis vor kurzem im kanadischen Quebec aufgehalten hat. Er wurde 1947 im ehemaligen Belgisch-Kongo geboren.

Jouret hat sich offenbar bereits in jungen Jahren für Geistheiler und Teufelsanbeter interessiert. Zunächst aber, so geht aus belgischen Presseberichten hervor, faszinierten ihn Alternativmedizin und Esoterik. Nach einem abgeschlossenen Medizinstudium an der Universität Brüssel spezialisierte er sich auf Homöopathie. In der Schweiz gründete Jouret unter anderem den Club „Archedia“, der sich „die Förderung der intuitiven Intelligenz der Menschen“ zum Ziel gemacht hat. Sein Hauptsitz befindet sich in Genf. Jourets Sonnentempler sind schon seit längerer Zeit in der Schweiz aktiv, blieben jedoch relativ unbekannt.

Die Sekte betrachte sich als „Hüter des Lichts in einer Welt der Dekadenz“, sagt Theologieprofessor und Sektenexperte Georg Schmid aus Zürich. Es handle sich um eine religiös-fundamentalistische Gruppe, die den nahen Weltuntergang erwarte. Sekten-Guru Jouret, so Schmid, habe immer wieder betont, der Tod sei nur der Übergang in eine andere Gestalt des Lebens.

Sekte leidet unter Verfolgungswahn

Auch der Schweizer Joachim Müller, ein katholischer Sektenexperte, hält es für durchaus möglich, daß die Sekte unter Verfolgungswahn leide. So seien die Sektenmitglieder von ihrem Guru dazu angehalten worden, Waffen zu horten und Schießübungen abzuhalten. Jouret selber hatte Kanada wegen illegalen Waffenbesitzes verlassen müssen. Der Guru sei ständig auf der Flucht gewesen, sagte eine ehemalige Sekretärin des Sektenführers.

Laut dem Berner Justiz- und Polizeidepartement ist noch kein internationaler Haftbefehl gegen Jouret erlassen worden. Dies müßten die Behörden in Fribourg, im Wallis oder in Kanada veranlassen, verlautete aus dem Ministerium. Auch ein Verbot der Sonnentempel-Sekte komme vorerst nicht in Frage, sagte Corinne Goetschel, Sprecherin des Justiz- und Polizeidepartements. Man könne die lange Tradition der Glaubensfreiheit in der Schweiz nicht einfach über Bord werfen.

Das Sekten-Unglück in der Schweiz erinnert an die Ereignisse vor eineinhalb Jahren in Waco, Texas. Damals hatte der Anführer der Davidianer-Sekte, David Koresh, seine Ranch angezündet, wobei 80 seiner Anhänger ums Leben kamen. Noch dramatischer fiel ein Massenselbstmord der Sekte „Volkstempel“ 1978 in Guyana aus. Dabei fanden 923 Menschen den Tod.