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Geschwindigkeitsrausch und Zerklüftung

■ Mammutunternehmen: Stephan Möller spielt alle 32 Klaviersonaten von Beethoven

„Sie sind in Bremen vergöttert“, diesen Zettel schob man einst dem tauben Komponisten in Bremen zu. Ob es dem einst bremischen, nun in Wien lebenden Pianisten Stephan Möller gelingen kann, an eine solche Beethoven-Rezeption wiederanzuschließen, dafür gibt es nach zwei Konzerten in der Kunsthalle erste Anzeichen. Seine heftige und identifikatorische Auseinandersetzung mit Beethoven ermutigte ihn zu einem Mammutunternehmen: er spielt bis Weihnachten an acht Abenden und an vier verschiedenen Veranstaltungsorten alle 32 Klaviersonaten von Beethoven, allein von der Kraft- und Gedächtnisleistung her ein unbeschreibliches Unterfangen der Beethoven-Gesellschaft Bremen.

Beethovens Klaviersonaten, von 1795 bis 1822 geschrieben, markieren gewissermaßen den Weg, den Beethoven von der noch im Barock verhafteten Klassik zu den gewaltigen Inhalts- und Formexplosionen ging, die ihn bis heute unwidersprochen zum Vorläufer der Moderne machen. Die Radikalität, mit der sich in diesem Kosmos das Leiden und die Wut des Subjekts eine Stimme verschafft, sucht in der gesamten Literatur ihresgleichen.

Stephan Möller ließ an den ersten beiden Abenden in der Kunsthalle keinen Zweifel an seiner doppelten Kompetenz: der einer verbal-analytischen und manuell-praktischen exegetischen Fähigkeit. Seine Interpretationen wurzeln hauptsächlich in den 1942 durch Rudolf Kolisch bekannt gewordenen Zusammenhängen von Tempo und Charakter. Daß das Tempo den Charakter bestimmt, dazu hatte Beethoven seine Instrumentalwerke nachträglich mit Metronomvorschriften versehen, allerdings nicht die Klaviersonaten außer der op. 106. Die sorgfältige Beachtung der Charaktere durch zum Teil wahnwitzige Tempi verführt Stephan Möller allerdings zu einem gradlinig nach vorne stürmenden Rausch, der jegliche Vertikalen in dieser Musik übergeht: alle kleinen Gestalten, von Beethoven gründlich artikuliert, müssen dem formsprengenden Temporausch weichen, der mit identifikatorischer Leidenschaft zelebriert wird und gelegentlich auch aus den Fugen gerät. Möller läßt Sforzati geradezu explodieren, legt ein richtiges Gewicht auf die in den frühen Sonaten schon latent vorhandene Sprengung der Gattung mit ihren bis heute erregenden Zerklüftungen und vergißt darüber aber sowohl die „sprechende Geste“ als auch viele Dimensionen der Klangfarbe: den knochentrocken und grob gespielten langsamen Sätzen fehlte jedes lyrische Element. Manches wirkte so, als warte er nur auf den nächsten Ausbruch und das nächste Losrasen, um was allein es ihm ja nur ging.

Trotz dieser Einschränkungen verdient diese zyklische Präsentation, die von Dacapo veranstaltet wird, ein zahlreiches Publikum: die Eindeutigkeit von Stephan Möllers Ansatz und ihre bewundernswerte manuelle Umsetzung dürfte selten genug zu hören sein. Beethovens Musik, bis heute alles andere als feines klassisches Bildungsgut, das machten diese Abende in jedem Fall deutlich in ihrer unmißverständlichen Aufforderung, eingefahrene Hörtraditionen in Frage zu stellen.

Ute Schalz-Laurenze

Der dritte und vierte Abend am 19. und 20. Oktober findet im Sendesaal von Radio Bremen statt.

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