Village Voice
: Die richtige Stufe der Peinlichkeit

■ Sidewalk Poets, Eggman 5, Pleasure Bombs und Annette Berr

Ganz neue Wege bei der Vermarktung ihrer Musik schlagen die Herren Sidewalk Poets ein. In der größten Hitze dieses Sommers unternahmen sie eine Südostasientournee. Diese führte sie durch diverse China- und Asienrestaurants – in Berlin. Ideenproduzent und Sänger der Poets, Christopher Gehrke, der auch für die hübsche Idee verantwortlich war, die fürs Bands United Konzert unbrauchbaren Demokassetten im wahrsten Sinne des Wortes unter den Hammer zu bringen, kandidiert jetzt auch noch zur Bundestagswahl.

Gähn! werden da einige sagen. UFFTA! aber heißt die Veranstaltung: „12 Musiker, 3 Bands, 1 Ereignis!“ Zwei Tage vor „der Wahl“ haben wir die Wahl im BKA-Zelt. Die Berliner Kombos Eggmen 5, Pleasure Bombs und Gehrkes Sidewalk Poets geben ein Konzert. Und aus diesem Anlaß hat sich Gehrke mal wieder in Sachen sanfte Missionierung der Massen seine Gedanken gemacht. Die drei Bands geben „exklusiv“ zu diesem Konzert eine CD heraus. Und keiner kommt an dieser Platte vorbei: „Die CD ist die Eintrittskarte für UFFTA!“

Die Sidewalk Poets versuchen sich an einer kryptisch angehauchten Textsprache à la: „Rede mit ihr. Du wirst die Sterne nicht vom Himmel holen. Rede!“ Sagt mir zwar nicht viel, ist aber wenigstens nicht englisch, klingt also vielleicht schon deshalb einigermaßen ungekünstelt. Und paßt zu ihrer Variante von Folkbeatmusik. Eggmen 5 klingen da schon wesentlich weniger originell, finde ich. Rockmusik, fetter, aufdringlicher Gitarrensound, viel zu perfekt und in absichtlichem Nuschelamerikanisch gesungen. Headbangers Ball im Neuköllner Kindergarten. Dann haben sie auch noch was gegen Kreditkarten: „Fuckin' Mastercards.“ Herrje. Die Pleasure Bombs reißen den Abend und die 7-Stücke-CD wieder einigermaßen raus und ins Funkmäßige rein. Lustig die Coverversion des Beatles-Schlagers „Drive My Car“.

Ihren eigenen Weg geht – so nennt man das doch wohl – Frau Annette Berr. Die Berliner Sängerin hat seit 1990 einen Vertrag mit der WEA. Ihr erstes Album hieß „Blaue Krokodile“. A. Berr war auf Anhieb every critic's darling. Das reicht bekanntlich nicht zu Plattenruhm und Reichtum, hat ihr aber wohl auch nicht geschadet. Viele vergleichen sie gern mit „der Knef“, und tatsächlich hat ihre Stimme irgendwas vom Timbre (hah!) der Frau mit dem Koffer in der Reichshauptstadt.

Annette Berr macht im Grunde Schlager. Und das ist gut so. Das erspart ihr selbst- oder publikumsquälerische Abgrenzungsinszenierungen. Außerdem gehört dem Schlager die Zukunft. Berrs Songs sind, wie sagt man gleich, sparsam instrumentiert. Ein bißchen Klavier, ganz leise im Hintergrund eine Verzerrgitarre, „Hochseiltänzer oben auf'm Seil: ausjebuddelt is die Erde tief unter dir“. Die Kunst bei deutschen Texten ist immer noch, die richtige Stufe von Peinlichkeit zu schaffen. Ähnlich wie Sven Regner von Element Of Crime scheint die Berr eine der wenigen zu sein, die das hinkriegen. Peinlich ist ja fast jedes Gefühl. Und auch alles, was mit Berlin zusammenhängt. Und gibt es ein wohligeres Gefühl, als peinlich berührt zu sein? Also frisch ans Werk: Annette Berr, ick liebe dir. Andreas Becker

„UFFTA!“ mit Sidewalk Poets, Eggmen 5 und Pleasure Bombs, am 14. 10. im BKA-Zelt, aber auch im Plattenfachhandel; Annette Berr: „Schlaflos“, WEA