■ 8. Oktober 1989
: Im Polizeikessel

Gegen acht Uhr am Abend mache ich mich auf den Weg zur Gethsemane-Kirche. In vielen Fenstern in den Straßen, in denen am Abend zuvor die Demonstration zusammengeknüppelt worden war, stehen brennende Kerzen als stumme Zeichen des Protestes. Es ist die Rede davon, daß die alten Ost- Wasserwerfer Flüchtende sogar bis auf die Höfe verfolgt hätten. Viele sind verhaftet worden. Es scheint, als habe nun die offene Auseinandersetzung begonnen.

Die Kirche ist von Polizei, Stasi und Kampfgruppen weiträumig abgeriegelt. Es ist zwar möglich, den abgeriegelten Bereich zu verlassen, zur Kirche aber kommt niemand mehr durch. Einer, der von drinnen kommt, erzählt, die Bullen hätten versucht, die Kirche während eines Fürbittgottesdienstes zu stürmen. Das hätte aber wegen eines zu großen Durcheinanders nicht geklappt.

Ich umrunde das abgesperrte Gebiet. Vor den Polizeiketten sammeln sich mehr und mehr Menschen. Unmerklich wird daraus eine Menschenmenge. Plötzlich werden die abriegelnden Polizisten ihrerseits von Demonstranten abgeriegelt. Hinter den Polizisten stehen Mannschaftswagen, die offenbar mit großen Hundezwingern beladen sind. Das wütende Gebell der Tiere ist der einzige Lärm, der zu hören ist. Menschen lassen sich vor den Polizeiketten nieder und stellen vor die Füße der Polizisten eine schmale Reihe brennender Kerzen. Mir ist kalt bis ins Herz hinab. Aber gleichzeitig fühle ich mich auch merkwürdig entschlossen. Ich bin nicht mehr Beobachter, ich bin Teil dieser Demonstrantenmenge. Umkehr ist nicht mehr möglich. Gerüchteweise ist von Sondergesetzen die Rede, die verhängt worden sein sollen. Das Wort „Standrecht“ macht die Runde.

Dann beginnt die Polizei, die Schönhauser Allee zu räumen. Ein weiteres Gerücht ist zu hören: Die aufgefahrenen Wasserwerfer seien erst kürzlich vom Westberliner Senat gekauft worden. Ausgerechnet. Das erbittert zusätzlich. Menschen lassen sich vor der vorrückenden Polizei auf der Straße nieder, rufen: „Wir sind das Volk!“ und singen die Internationale. Wenn die Greiftrupps der Stasi vorstürmen, springen die Leute auf und rennen zurück. Wer nicht schnell genug ist, wird zusammengeschlagen und auf einen Lkw geworfen. Dieses Spiel wiederholt sich einige Male.

Mitten im Gewimmel hält mich eine alte Frau am Arm fest und fragt hilflos nach dem Weg zum S-Bahnhof. Sie zittert am ganzen Körper und ist offensichtlich ohne jede Orientierung. Wir stehen vor dem Bahnhofseingang. Während ich sie auf den Bahnsteig bringe, sagt sie, wir sollten mutig bleiben, irgendwann müsse doch Freiheit sein. So entgehe ich dem ersten Wasserwerfereinsatz auf der Allee, gerate dann aber auf dem Bahnhof in einen Polizeikessel. Irgendwie gelingt es mir, mich über die Bahngleise und die anschließenden Hinterhöfe davonzumachen. Wolfram Kempe