■ Tour d'Europe
: Schwarze Tage

Das Datum hat eine Art metaphorischer Bedeutung: Der 15. Dezember gilt, seit Italiens Spitzenreiter im Dauerregieren, der Sozialist Bettino Craxi, an diesem Tag 1992 seinen ersten Ermittlungsbescheid erhielt, als der schwärzeste Tag, den ein Politiker oder eine politische Klasse sich denken kann. Mittlerweile laufen mehr als zwei Dutzend solcher Verfahren gegen Craxi wegen einer eingesackten Gesamtsumme von umgerechnet an die 80 Millionen Mark. Politkollegen wie der christdemokratische Parteikassierer Citaristi und der liberale Ex- Gesundheitsminister De Lorenzo haben den Sozialisten längst mit fast hundert Verfahren überflügelt, doch jener Dammbruch des 15. Dezember ist der einzige, den die Chronisten in den immerwährenden Kalender politischer Topereignisse geschrieben haben. Seither ist niemand und nichts mehr tabu. Manchen, wie den siebenmaligen Regierungschef Giulio Andreotti oder den Ex-Innenminister Antonio Gava, hat die Staatsanwaltschaft mittlerweile sogar schon wegen Beteiligung an Verbrechen von Mafia und Camorra vor Gericht gebracht.

Auch außerhalb Italiens galt und gilt dieser Tag als Beginn einer Art Götterdämmerung. Regierungschefs, zumal gewesene, hatte man bis dahin in Ruhe zu lassen und Ex-Minister möglichst auch. Tatsächlich war das Dreivierteljahr zwischen Mitte 1992 und Frühjahr 1993 in allen großen Staaten fatal für die herrschenden Klassen. In Deutschland mußte Wirtschaftsminister Möllemann wegen Vermischung privater mit dienstlichen Interessen gehen, Bayerns Landesvater Streibl stolperte über Amigos, andere Amtsträger über Friseurrechnungen, Umzugsentgelte und Dienstbotengehälter. In Frankreich begann der unaufhaltsame Abstieg der Sozialisten mit dem Aids-Skandal um kontaminierte Blutkonserven, kamen illegale Abhörpraktiken der Geheimdienste gegenüber Journalisten zutage, wurden Schmiergeldempfänge von Premierminister Bérégovoy bekannt. In England gerieten die Konservativen in Turbulenzen, weil sie nicht erklären konnten, wie sie mit Hilfe von ein paar wenigen Millionen Pfund Sterling Ausgaben in drei- bis vierfacher Höhe hatten begleichen können. In Spanien erwies sich die Regierungsmannschaft von Felipe Gonzalez als nahezu durchgehend korrupt, darunter auch enge Verwandte des Ministerpräsidenten.

Doch bereits Mitte 1993 zeichnete sich überall eine Wende ab: Viele Ermittlungsverfahren begannen sich trotz eindeutiger Rechtslage in die Länge zu ziehen, manchen Politikern wurde nach ihrem Rücktritt das Verfahren vom Hals geschafft, weshalb sie inzwischen fröhlich ein Comeback versuchen. In anderen Fällen zeigten sich die Bürger kaum zur Unterstützung einer Generalreinigung bereit, siehe Bayern. In vielen Fällen wurden allzu eifrige Strafermittler abgezogen oder weggelobt, manche auch in die Parlamente gewählt – wo sie seither ein armseliges Dasein als Hinterbänkler führen, anstatt, wie vielen von ihnen versprochen, Staatssekretär oder gar Minister für Justiz zu werden.W.R.