Hand am eigenen Hintern

■ Hitverkäuferin in Lack: Herbstrückrunde der „Roxette“-Europatournee

„Warum sind Schweden so erfolgreich im Popgeschäft“ wird Per Gessle gefragt. Der Songschreiber wird demonstrativ nachdenklich: „Vielleicht wegen der Milch?“ Keiner lacht. Die Pressekonferenz mit Roxette im Berliner Kempinski, die runde zwanzig Minuten dauert, hat ihren Witzigkeitszenit damit auch schon erreicht.

Ja, sie seien jetzt schon einige Monate auf Tournee, Australien, USA, Südostasien, Südafrika ist geplant. Ob so eine Tournee Spaß mache, will jemand wissen. Ja, ja, aber sie freue sich vor allem auf ihre Tochter und ihren Ehemann, sagt Sängerin Marie Fredriksson. „Meist sind wir im Hotel, sehen nicht viel von den Städten. Bei unserem letzten Auftritt in Berlin war ich im Museum.“

So also sieht er aus, der Alltag eines schwedischen Poparbeiters. Waren noch bei Abba gleich zwei Paare ehehygienisch im Fernsehbild verankert – die erste wirklich saubere Popband, bei der sich auch der geilste Rentner keine Groupieexzesse mehr vorstellen konnte – repräsentiert das Duo Roxette den Neunzigerjahressex: Ich mach's mir selber, und das auch nur im Kopf, das ist sauberer, und man kriegt kein Aids davon. Wurde bei Abba wenigstens manchmal noch gestöhnt und geschnauft, und man konnte sich mit den Eltern streiten, welche von beiden man besser fände, geht's bei Roxette aseptischer zu als in einem Krankenhausflur.

Das richtige also für Kinder? Mit der zwölfjährigen Natascha mache ich mich abends auf in die Deutschlandhalle. Vorn am Zaun vor der Bühne erzählt eine Frau im grauen Rotkreuzkittel, die ersten Fans hätten seit neun Uhr morgens vor der Halle gestanden. Zehn von ihnen seien schon vor dem Konzert ohnmächtig geworden: Zuckermangel. Gerade hatten wir wieder eine, die wachte auf und dachte, sie sei geflogen, weil man sie über die Köpfe der Leute nach vorn getragen hatte: „Die vorderen Reihen tauschen wir komplett aus.“

Als das Licht erlischt, wird gekreischt. Ein paar Kinderstimmen weniger als bei den Prinzen. Marie Fredriksson hat sich in knatschenge schwarze Lackklamotten gezwängt. „Driving In My Car. Making Love.“ Sie faßt sich mit der linken Hand an den eigenen Hintern. So als wisse sie nicht wohin mit der freien Hand, in der kein Mikro ist.

In ihrer harmlosen Gestik erinnert sie eher an eine Sachbearbeiterin des Arbeitsamts, als an eine Frau, die uns zu einem ausgiebigen „Joyride“ auffordert. Bei der Ballade „Listen To Your Heart“ zupft sie ihrem Gitarristen keck am Ohr. Kumpelhaft legt sie auch schon mal den Arm um den bierbäuchigen Schlagzeuger.

Aber wer von Marie Fredriksson irgendetwas erwartet, daß er vielleicht einmal bei Madonna gesehen hat, wird bei Roxette zutiefst enttäuscht sein. Marie will keinen Sex mit ihrem Publikum. Weder bewegt sie die Hüften, noch legt sie die Hand auf verbotene Stellen. Sie scheint nicht einmal zu schwitzen. Sie könnte ebensogut als Einrichtungsberaterin bei Ikea arbeiten, nur würde ihr Aufzug da wohl mehr Aufmerksamkeit erregen.

Musik, oder gar Rock 'n' Roll, oder das, was wir uns manchmal immer noch darunter vorstellen, existieren hier nicht einmal mehr als Zitat oder wenigstens auf die Spitze getriebene Künstlichkeit. Die Musiker wirken auch nicht ausgelaugt oder müde. Das Songmaterial, dieser harmlose Melodienreigen, der sich weltweit millionenfach verkauft, steht einfach im Raum herum.

Roxette sind ihre eigene Hitreproduktionsfirma. Aus tausend Kinderkehlen trällert es „Making Love“. Erwachsene verpulvern den Inhalt ihrer Feuerzeuge. Natascha reckt instinktiv den Arm nach oben, obwohl sie kein Feuerzeug besitzt. Nachher sagt sie, es sei doch irgendwie langweilig gewesen. Andreas Becker

Roxette: 8.10. Halle, 10.10. Köln, 11.10. Bayreuth, 12. und 13.10. München, 18.10. Frankfurt, 19.10. Memmingen, und wenn sie nicht gestorben sind, spielen sie noch 2094.