Erzählen ohne Erschrecken

■ Schauspielhaus: Premiere von „Nathan der Weise/Der Jude von Malta“

Erinnern wir uns für einen Moment an die Saisoneröffnung im Schauspielhaus vor einem Jahr. Eine Inszenierung, die zwischen Begeisterung und Geringschätzung das Publikum polarisierte, stand damals programmatisch am Beginn einer Spielzeit, die dem Haus am Ende die Bezeichnung „Theater des Jahres“ einbrachte: Rainald Goetz' Kritik in Festung. Der Regisseur, der diesem schwierigen Text soviel Bilderreichtum, klug komponierte Deutung und menschliche Vision abzugewinnen wußte, hieß Anselm Weber.

Nun beginnt das Jahr zwei des neuen Teams mit Frank Baumbauer an der Spitze. Und wieder schwebt das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit über dem Thema der ersten Premiere. Und wieder weckt man hohe Erwartungen (Baumbauer vor der Sommerpause: „Über dieses Projekt wird man in der Stadt sprechen - so hoffe ich jedenfalls“). Und wieder ist Anselm Weber der Regisseur. Kann das gut gehen?

Zunächst gilt es festzustellen, daß der Versuch, zwei thematisch verwandte Stücke zu verschränken, glückt. Christopher Marlows im 16. Jahrhundert verfaßtes Drama über die Rache des reichen Juden von Malta Barabas an den staatlichen Räubern seines Vermögens und Lessings Toleranz-Parabel Nathan der Weise lassen sich tatsächlich parallel und auf einer Bühne erzählen. Gemeinsames und Gegensätzliches ergänzt sich logisch wie in einem Gespräch zweier Personen über verschiedene Erfahrungen im gleichen Kontext.

Hier Nathan, der in dem vektoriellen Kampf dreier religiöser Welt-Ideologien versucht, die gütige und ruhende Mitte zu installieren, und dort Barabas, der sich aus dem ungleichen Krieg der Glaubenshaltungen durch pures Eigeninteresse hinauskatapultiert, entwickeln als oppositionelle Charaktere ein Spannungsfeld, das Webers Regie allerdings punktuell entschärft. Denn die Weisheit seines Nathans (Walter Kreye) ist durchaus ein Produkt panischer Angst, wenn er die Ringparabel nicht im philosophischen Dialog kluger Männer sondern im herrschaftlichen Verhör beim Sultan ausbreitet, um seine Haut zu retten. Und die Tragödie seines Barabas' (Josef Ostendorf), wie er im zornigen Morden das Maß verliert und schließlich das Opfer eigener Fehlentscheidungen wird, ist als Komödie erzählt viel weniger moralisch, als das von Marlow konzipierte Bild.

Durch diesen Verzicht auf die traditionelle Integritiät der Personen nähert Weber die Stück aneinander an und schafft einen gemeinsamen Raum der Menschlichkeit für beide Geschichten (wobei ihm der Marlow mit einem furios sich freispielenden Josef Ostendorf weit leichter von der Hand geht als der streckenweise etwas spröde Nathan). Dennoch stiehlt sich der Frankfurter Regisseur genau hiermit auch ein Stück aus der Verantwortung, die Diskussion über heutigen Antisemitismus zu reflektieren. Denn sowohl Nathan als auch Barabas repräsentieren in Webers Lesart weit mehr individuelle Konflikte als weltanschaulich-rassistische. Die Drohung der Vernichtung, die Dimensionen der geistigen, gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzung der Juden, der deutsche Antisemitismus und sein Ende im Holocaust sowie die Verdrängungsgeschichte danach, Themen, die man gerade beim Schauspielhaus in einem solch exponierten Projekt erwartet hätte, kommen nicht vor oder nur als Zitate, die zu austauschbar sind, um zu stören. Durch dieses Zurückweichen vor einer aktualisierten Deutung erscheint Antisemitismus leider als Problem der Vergangenheit.

So unterhält Weber ohne zu quälen, ohne Bilder und Momente zu erzwingen, die die Geschichte des Leidens atmen, ohne Erinnern und Zweifel, ohne Diskussion zu provozieren, ohne Erschrecken. Aber: Er unterhält immerhin. Denn trotz annähernd vierstündiger Dauer bleibt das Doppelpack kurzweilig, plastisch erzählt und voller schauspielerischer Mini-Feuerwerke (etwa Monika Bleibtreu als Hure Bellamira oder Martin Lindow als mordender Sklave Ithamore). Nur: Die Angst vor dem moralischen Zeigefinger hat sich hier zum allzu lockeren Dirigat gedreht.

Till Briegleb