Ja, super, mach' ma

Von einem, der auszog, das Tanzen zu lernen: Rainald Goetz hat das erste Techno-Konzeptalbum gemacht  ■ Von Thomas Groß

Im Tracklisting fließt es noch nicht so richtig: „Jahre“, „Mädchen“, „Blut“, „Mai“, „Abstrakt“, „Tanzte“, „Abschied“ – alles eher abgehackte, einsilbige Titel, linkisch und lebensfern wie Wörter nun mal sind. Rainald Goetz kann nicht tanzen. Oder doch?

Immerhin ist es eine Discothek, in der das jüngste Goetz-Produkt vorgestellt werden soll: das „Omen“ in Frankfurt/M., Techno- Stätte der ersten Stunde und Höhle des Väth, des supermäßigsten, international geliebtesten aller deutschen DJs, der zudem gerade wie ein dämonischer Dschinn von den Plakatsäulen der Innenstadt für seine aktuelle Platte wirbt – Titel: „The Harlekin, The Robot And The Ballet Dancer“. Und eine Platte ist der neue Goetz ja auch, eine Doppel-CD genauer gesagt. „Word“ heißt das Werk, und es „kombiniert Texte aus dem Prosaband ,Kronos‘ mit Techno- und Ambient-Musik, die in den Eye Q Studios in Zusammenarbeit mit Oliver Lieb und Stevie Be Zet entstanden ist. Die Plattenfirma Eye Q lädt Sie am Freitag, den 7. Oktober herzlich zur Präsentation ein.“

18 Uhr 30 ist allerdings keine Zeit für allzu freudige Partystimmung. Fröstelnd drückt sich die Multiplikatoren- und Freundesmeute am Tresen herum, nicht wenige sind gerade hereingeschneit vom großen Bruder Buchmesse, zu der das hier ein geheimes Rahmen-, aber auch Gegenprogramm bilden soll – Subkultur des Wortes. Im Hintergrund läuft bereits ein halblautes, monotones Bandgemurmel, das sich bei näherem Hinhören als Autorenlesung aus „Katarakt“ entpuppt, einem der letzten goetzschen Theaterhits.

Keiner nimmt besondere Notiz davon, was den Dichter zu freuen scheint, der im roten Raver-Stepp von Grüppchen zu Grüppchen eilt und Hände schüttelt – soll der Sound der Geselligkeit doch den blöden Sinn verwehen! So oder so ähnlich funktioniert nämlich auch die „Soziale Praxis“ genannte erste CD von „Word“, wie Goetz wenig später, auf einem Geräteköfferchen stehend, in die Runde erklärt.

Techno, die Spaßmusik der Neunziger Jahre, sei ein heiterer Feind des Wortes: banal-brutal, kohärenzfeindlich, anti-dichterisch. Von Ausnahmen abgesehen, würde gezielt und mit viel Vergnügen das Wort musikalisch niedergeknüppelt. Und das sei gut so.

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Während es dafür den ersten Applaus gibt, setzt Goetz auch schon zu einem weiteren Schritt an: Techno, sofern wohlverstanden praktiziert, müsse zugleich auch als großer Versöhner aufgefaßt werden, ein Medium des Romantisch- Sentimentalen, wie es die zweite, „Ästhetisches System“ genannte CD von „Word“ mit ihren seligen Trance-Klängen zum Wortvortrag vorführt. Hier sei nun alles Geschichte, Humanität, Konstruktion. Gerade im Ringen mit dem Komplexen entstünde am Ende der Trost des Immer-schon-Gehörten, Vertrauten und Besänftigenden, nichts weniger als „totale Schönheit“.

Daß Rainald Goetz keine Viertelstunde braucht, um die krude Unschuld der Techno-Musik mit einem kompletten Erlösungssystem zu überbauen, wird die wenigsten im „Omen“ Anwesenden überrascht haben. Das eigentliche Spektakel besteht darin, einer vierzigjährigen, schwer in Kultur und Schrift verstrickten Grüblernatur zuzuschauen, wie sie auf ihre Weise von der Rückeroberung der Naivität erzählt, auf dem Köfferchen-Podest heftig mit den Armen rudert – und dabei ins Stammeln gerät.

Fast ist das rührend. Die Geschichte einer doch noch geglückten Initiation: Am Anfang seien nämlich der Michi, der Oliver, der Stevie und die anderen gewesen, „all die Leute, die ich vom Nachtleben her kenn' und die gar nicht gewußt haben, daß ich Bücher mach'“. Und weil das eben so weit weg von denen gewesen ist, die lieber Platten auflegen und abfeiern, war dann irgendwann die Idee da, „was zu machen für die Leut'“, so eine Platte eben „mit softer, schöner, träumerischer Musik“. Sagt der Rainald heute. Und sagte der Rainald schon damals. Und das hat dann schließlich auch dem Heinz und dem Oliver eingeleuchtet, und die erlösenden Worte fielen: „Ja, super, mach' ma.“

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Männer, Fahrten, Abenteuer – der brennende Wunsch, Teil einer Jugendbewegung zu sein, keinem Popkulturmenschen ganz fremd, ist nicht das, was „Word“ von der goetzschen Vorgeschichte unterscheidet; bereits in „Irre“, dem Spätberufenen-Roman, mit dem die Offensive 1983 begann, schlug sich ein dem Autor sehr nahestehendes Weizenbiertrinker-Subjekt nachts auf die Seite von Punks und anderem Musikantenvolk, während es tagsüber als Arzt melancholisch am Wahnsinn herumkurierte. Wie jedes Goetz-Werk im Verhältnis zum vorigen, will dieses Textverarbeitungsprogramm allerdings mehr, will weiter, die Grenzen der Schrift überwinden. Obwohl es von seiner Text-Seite her bloß ein Recycling-Produkt ist, ein Sample bereits veröffentlichter Passagen, betreibt es die Wiedergeburt der Einheit aus dem Geiste der Musik.

Vorausgegangen ist eine Trennung, die das Cover von „Word“ mit einem denkwürdigen Foto aus dem Familienalbum kommentiert: Vater Goetz, ein katholisch gestrenger Mann, liest dem jungen Rainald aus dem Buch der Bücher vor, der Bibel, im Hintergrund ein Wandteppich mit holzschnittartigen, lautespielenden Figuren. Die fotografische Allegorie einer Urszene: Im Namen des Vaters wird der Sohn (der ironischerweise Ballettschuhe trägt) mit dem heiligen Geist vertraut gemacht. Fortan wird er das kulturelle Gesetz akzeptieren müssen, daß Schrift kein Ding ist, daß das Paradies verloren ist, das Bezeichnete verschwunden in einem System von dürren Buchstaben, in denen der Körper nur noch von fern nachklingt.

Im Verein mit Techno und der peer group, mit Michi, Oliver, Stevie und den anderen, will der Erwachsene sich nun alles zurückholen, will wiedererleben, was er vor den Baßboxen erlebt und im Textfragment „Ästhetisches System“ beschrieben hat: „wie das Pochen der Musik zum mütterlichen Herzschlag wurde und die Stimmen des Gesangs zu ihrer Brustkorbstimme“. Und er will es nicht nur erleben, er will es selber herstellen, indem er sich zum Produzenten – oder wenigstens zum Beiträger – einer Techno-Platte namens „Word“ erhebt.

„Lieber eine Schnulze, daß es kracht, als irgendein artifizieller Mist (Literatur)“ – dieses Urprogramm alles goetzschen Schreibens wird denn auch in „Word“ am bislang konsequentesten eingelöst. Harsch fährt der Techno-Rhythmus dem Dichterwort in die Parade, löst es in Fetzen auf, in Silben, die nur noch Sound sind, bis runter zu post-dadaistischen, schwitterschen Glossolalien: „Schmirlste Triumph, reißmen min reiden fü chattmerch ahou. Ahou?“ Ahou! Wenn's keiner mehr versteht, dafür aber klanglich brettert, kann die Heimkehr aus der Diaspora von Schrift und Geist nicht mehr weit sein, und wenn alle mitmachen – um so besser. Das ist „soziale Praxis“ nach Goetz, und deshalb heißt die erste Platte so.

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Anders als noch zu Zeiten von „Irre“ aber lauern an den Grenzen der Sprache, der Verhöhnung des Wort-Geist-Gottes, nicht mehr Wahnsinn, Schmerz und Strafe. Und das liegt am Kollektiv. Mitten im Techno-Heidentum erblüht eine romantische Form der Religiosität, eine fließende Stammesmusik, die alles mütterlich versöhnt: „er lauschte lange und war sehr glücklich ... Ihm war, als würde er zum ersten Mal die Zeit in der Musik erkennen überhaupt und richtig grundlegend verstehen, wie sie für die Menschen da war ... Das also war DIE MELANCHOLIE DER SELIGEN“.

Wird also am Techno-Wesen die Welt endlich genesen? Darüber, wie größenwahnsinnig, kitschig, weltblind, selbstbezogen, überspannt und zurechtgedacht diese musikalische Sozialromantik sein mag, soll hier nicht entschieden sein. Wie bei allen sozial ausgelegten Kunst-Utopien handelt es sich mehr um ein Märchen: Von einem der auszog, das Tanzen zu lernen. The Harlequin, The Robot And The Dichter-Dancer.

Schlimmer ist, daß „Word“ als Techno-Platte nicht funktioniert. In den Bretter-Passagen stört diese altmodische Robotnik-Attitüde des Wortbeitrags, die „futuristisch“ klingen soll, aber auch nicht anders daherkommt als die zerhackten Commander-Befehle aus „Rauschschiff Orion“. Die Trance- Teile aus „Ästhetisches System“, in denen die Stimme in den Vordergrund tritt, wirken dagegen wie ein später Nachhall jener unseligen „Musik & Poesie“-Projekte aus den Siebzigern, schlimmstenfalls sogar wie Konstantin Wecker. Der bayerische Akzent – immer wird halt sentimentalische Songpoesie draus. Sekunden der wahren Empfindung.

Der Techno-Bewegung, die ohnehin an zuviel Überbau leidet, hat Rainald Goetz mit seinem Romantik-Remix keinen besonders guten Dienst erwiesen. Die Platte ist ein Sammlerstück, kein Gebrauchsgegenstand. Aber das erste Techno- Konzeptalbum gemacht – das hat er. Und irgendwie war's dann doch eine Gaudi. Als Goetz mit seiner jugendlichen Techno-Party-Posse aus dem „Omen“ abzog, wirkte er jedenfalls sehr befreit.

Rainald Goetz: „Word“ (Eye Q Records)