Säuglinge auf dem Prüfstand

Die Forschung mit Säuglingen stellt die traditionelle Entwicklungslehre in Frage  ■ Von Barbara Eisenmann

Lang geisterte das Bild eines polymorph-perversen Säuglings durch die psychoanalytische Literatur. Ein libidinöses Wesen, das ungezügelt masturbatorischen Aktivitäten frönt und dessen Sexualität eine gar beneidenswerte Vielfalt aufweist. Doch nichts dergleichen: empirische Studien zur Sexualität des Kleinkinds haben gezeigt, daß zwar durchaus das Spiel mit dem Genital und anderen erogenen Zonen zum kindlichen Repertoire gehört, doch treten Indizien sexueller Erregung, gepreßter Atem, inwendiger Blick, erhöhte Pulsfrequenz erst im Alter von eineinhalb Jahren auf. Die traditionelle psychoanalytische Entwicklungslehre steht hiermit zur Diskussion. Über den Säugling muß neu nachgedacht werden.

Dies geschah erst kürzlich auf einer Tagung in Köln zum Thema „Infant Research and the Changing Practice of Psychoanalysis“. Aus den USA kommt der neue Forschungszweig, der hierzulande noch eher zögerlich aufgenommen wird. Und aus den USA kamen auch die beiden Hauptreferenten, Beatrice Beebe und Michael Basch, die sich der Verbindung beider Disziplinen, Säuglingsforschung und Psychoanalyse, in gänzlich unorthodoxer Weise annahmen. Die Säuglingsforschung räumt auf mit der theoretischen Fiktion des Säuglings, der sie harte Fakten entgegenhält. Mit raffinierten Versuchsanordnungen und dem Einsatz Bild- und informationsverarbeitender Technologien rückt sie dem realen Säugling ein ganzes Stück näher auf den Leib. Will die Psychoanalyse nicht endgültig ins theoretische Abseits geraten, muß sie sich wohl zwangsläufig mit Ergebnissen neuer Forschungszweige wie Kybernetik, Neurobiologie, System- und Informationstheorie befassen.

Anfang der achtziger Jahre begann die Rezeption der Baby-Forschung. In vielfältigen wahrnehmungspsychologischen Tests mit Neugeborenen konnte gezeigt werden, daß der Säugling eben nicht ein symbiotisch-verschmolzenes, passives Wesen ist, das sich – ausschließlich von Fütterungsbedürfnissen getrieben – der mütterlichen Bezugsperson zuwendet. Vielmehr offenbarte sich ein aktiv Reize aufsuchendes, mit vielerlei Kompetenzen und Affekten ausgestattetes Kleinkind, das von Anbeginn an zwischen sich und dem anderen zu unterscheiden versteht. Die Welt des Säuglings ist also alles andere als ein von unkontrollierbaren Lust- und Unlustgefühlen geprägtes Chaos.

In immer ausgeklügelteren experimentellen Settings werden dem Säugling nonverbal Fragen gestellt und Antworten entlockt, Kopfwenden, Saug- und Herzfrequenz und Blickverhalten werden als Signale benutzt, um seine Präferenzen aufzuspüren. Drei Wochen alten Kindern beispielsweise, denen die Augen verbunden worden waren, gab man einen Schnuller mit Noppen zum Lutschen. Später wurden ihnen zwei Schnuller, ein glatter und der noppenbestückte, zum Vergleich vorgelegt. Intensiv wandten sie ihre Blicke dem haptisch bereits bekannten Schnuller zu. Problemlos ordneten sie auch eine gestrichelte Linie einen unterbrochenen Ton und umgekehrt eine durchgehende Linie einem kontinuierlichen Ton zu. Die Fähigkeit zur Informationsübertragung berechtigt zur Annahme, daß Wahrnehmungen nicht als Bilder, Töne, haptische Eindrücke organisiert sind, sondern geordnet nach Formen, Intensitätsgraden, Bewegungsmustern und zeitlichen Abläufen.

Auch Affekte sind nicht einfach Freude, Kummer, Ekel, sondern haben eine zeitliche Struktur: sie wallen auf oder ab, sind flüchtig oder explosionsartig, ziehen sich hin oder zerbersten. Diese zunächst trivial anmutenden Befunde haben eine höchst bedeutende Konsequenz: Wahrnehmungs- und Erlebniseigenschaften werden nämlich abstrakt gespeichert und repräsentiert. Zwischen Kind und Bezugsperson entwickeln sich auch schnell charakteristische Handlungsmuster der wechselseitigen Regulierung und der Selbstregulierung des Kindes, die schon in den ersten Monaten zur Ausbildung kindlicher Erwartungen führen. So entsteht beispielsweise in bezug auf Aufwachen, Stillen und Wiedereinschlafen typischerweise bereits nach drei bis vier Wochen eine beiden Beteiligten bekannte Abfolge von Ereignissen.

Demnach existieren bereits frühe Formen vorsprachlicher Repräsentation, in denen zeitliche, räumliche und affektive Strukturen von Interaktionsprozessen niedergelegt sind. Mikroanalytisch aufgeschlüsselte Videoaufzeichnungen haben gezeigt, daß gerade die nicht bewußt wahrnehmbaren Zeiteinheiten unter einer Drittel Sekunde hochgradig beziehungsstrukturierend sind. Weil sie weitgehend außerhalb des Bewußtseins operieren, verhalten sich die präsymbolischen Repräsentationen späteren Modifizierungen gegenüber äußerst widerständig. Früh nimmt sie also ihren Lauf, die psychische Strukturbildung. Darüber sind sich Säuglingsforschung und Psychoanalyse einig. Daß seelische Strukturen im Austausch entstehen, in einem System wechselseitiger Beeinflussungen, in dem Handlungen, Bedürfnisse, Affekte immer „gepartnert“ sind, hat mit den Befunden des Babywatching nun auch eine empirische Basis erhalten.

Die Säuglingsforschung ist den nichtsprachlichen Message-Systemen auf der Spur, die dem menschlichen Bewußtsein zwar entzogen sind, das zwischenmenschliche Handeln jedoch in ungeahntem Ausmaß beeinflussen. Noch steckt freilich auch die Säuglingsforschung in den Kinderschuhen. Beobacht- und meßbar sind lediglich Wahrnehmung, Affekt und Interaktion, frühkindliches Denken und Phantasieren hingegen bleibt weiterhin der Spekulation überlassen.