Die Pest ist eingedämmt

■ WHO-Chef spricht nach Indienbesuch von „Überreaktionen“ des Auslands

Neu-Delhi (taz) – Die Pest in Indien scheint unter Kontrolle zu sein. Zwar werden weiterhin einzelne Menschen unter dem Verdacht der Ansteckung eingeliefert, dieser bestätigt sich jedoch immer seltener. Die Zahl der Pestkranken (249) wie die der Opfer (56) haben sich weitgehend stabilisiert.

Weniger als drei Wochen nach Ausbruch der Epidemie in der westindischen Stadt Surat verstärkt sich damit die Hoffnung, daß die Seuche auf die Region Südgujarat und die Hauptstadt Delhi eingedämmt worden ist.

Darf man angesichts der geringen Ausbreitung – die große Mehrzahl der Toten stammt aus Surat und zudem aus den ersten zwei Tagen nach dem Ausbruch – überhaupt von einer Epidemie sprechen? Der Generaldirektor der UNO-Weltgesundheitsorganisation in Genf, Dr. N. Nakajima, der letzte Woche zusammen mit einem Team von WHO-Experten Indien besuchte, verneinte diese Frage vor Journalisten. Er stellt eine Epidemie-Diagnose selbst für Surat in Frage: „Sind 192 Fälle in einer Bevölkerug von 1,8 Millionen eine Epidemie?“

Inzwischen gibt es Stimmen, die selbst die Pestdiagnose anzweifeln. Ein Ärzteteam, das in Surat detaillierte Untersuchungen durchführte, äußerte die Vermutung, daß eine andere Infektionskrankheit, Melioidosis, die rund fünfzig Todesfälle erklären könnte. Es handelt sich um eine Krankheit mit ähnlichem Krankheitsbild und Verlauf wie die Lungenpest, welche jedoch nicht so hoch ansteckend wirkt. Sie würde den eigenartigen Umstand erklären, daß in Surat praktisch keine Fälle der Bubonenpest gefunden wurden, obwohl diese normalerweise ein Vorstadium der Lungenpest darstellt und damit den Kreislauf Floh/Ratte/ Mensch schließt.

Die meisten Opfer in dieser Stadt waren zudem nicht verwandt, was bei der hohen Ansteckungsinzidenz außergewöhnlich ist. Die Ärzte stellten auch die Frage, wie es möglich war, daß Bombay mit annähernd 100.000 Flüchtlingen aus Surat keinen einzigen Fall von Lungenpest registriert hat. Der WHO-Generaldirektor zeigte sich „hundertprozentig“ davon überzeugt, daß es sich in Surat um die Pest gehandelt hat. Aber einer seiner Experten, Dr.Guillaume Rodier, gab zu, daß es „offene Fragen“ gebe.

Nakajima war der Meinung, daß die internationale Öffentlichkeit „überreagiert“ habe. Er spielte damit vor allem auf die Schließung der Grenzen der Golfstaaten für Personen und Güter aus Indien an, ebenso wie auf Panikberichte in der westlichen Presse, die dazu geführt haben, daß viele Touristen ihre Indienreise absagten. Bernard Imhasly