Das Maßl ist voll

■ Populärer Glasnost-Veteran Jegor Jakowlew greift Boris Jelzin wegen dessen „Leidenschaft für Spirituosen“ an

Moskau (taz) – In diesem schönen russischen Altweibersommer erschien die Machtposition Boris Jelzins für einen sonnigen Augenblick unerschütterlich. Plötzlich aber entbrennt ein heftiger Streit in Moskau, dessen Protagonisten sich wieder einmal an der üppigen Figur des russischen Präsidenten selbst abarbeiten. Grund: Schon Boris Nikolajewitschs Dirigentenkunst und seine Interpretation des Liedes „Kalinka“ anläßlich der Verabschiedung der letzten russischen Soldaten aus Deutschland hatten in die Gemüter auch der Jelzin-treusten Bürger Zweifel gesät, ob die Liebe ihres Präsidenten zum Alkohol seine politische Arbeit nicht doch entscheidend beeinflusse. Nachdem aber Jelzin nach dem Washingtoner Gipfel seinen Zwischenstopp in Irland „verschlief“, wurde dieser Verdacht zur Gewißheit. Daß man den erschöpften Präsidenten fast zwei Stunden lang nicht hatte wecken können, mochte niemand mehr glauben.

Das Fernsehmagazin „Itogi“ präsentierte der Nation die plump hervorgestoßene Erklärung des aus taktvollem Winkel aufgenommenen Staatsoberhauptes gleich nach der Landung daheim: Die Wache habe seine „Mittagsruhe“ nicht zu stören gewagt. „Ich habe mich lange nicht mehr so geschämt“, erklärten mir anschließend diverse russische Bekannte.

Der Sender „Echo Moskaus“ widmete letzten Donnerstag einen ganzen Abend dem Thema: „Kann sich ein Land einen Alkoholiker als Präsidenten leisten?“ Die befragten Journalisten und Zuhörer übten sich freilich eher in Zurückhaltung. „Warum eigentlich nicht?“ so lautete ihr Tenor.

Am Freitag ergriff dann jedoch der hochangesehene Pionier der Glasnost und langjährige Chefredakteur der Zeitschrift Moscow News, Jegor Jakowlew, in seiner neuen Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta das Wort. „Ich hätte zugegebenermaßen nie erwartet, einmal derartige Zeilen an Ihre Adresse zu richten, Boris Nikolajewitsch“, schreibt er, „aber die Merkwürdigkeiten in Ihrem Benehmen werden von Tag zu Tag deutlicher. Ihre Leidenschaft für Spirituosen stellt für niemanden ein Geheimnis dar außer für sie.“

Anschließend plaudert Jakowlew offen aus dem Nähkästchen: „Ich erinnere mich, irgendwann einmal waren Sie für mehrere Tage verschwunden und tauchten dann in Noworossijsk wieder auf. Später fragte man mich gereizt: Warum machen die Journalisten bloß so ein Geschrei um diese Geschichte? Darum wohl, weil Sie der Präsident sind.“ Jakowlew weiter: „Ich kann nicht vergessen, wie peinlich mir auf einem der Treffen der GUS-Häupter, weit von Moskau, zumute wurde. Anfangs war unser Präsident in Form, machte nicht nur irgendwie mit, sondern schien sogar die Diskussion zu bestimmen. Aber nach dem Mittagessen ging der ganze offizielle Teil flöten.“ Sogar der Sieg der Demokraten beim Augustputsch 1991 sei nur gelungen, weil sich Jelzin gerade in einer Ausnüchterungsphase befand: „Ich erinnere mich noch an den Abflug des ersten Mannes Rußlands am Abend des 18. August 1991 aus Kasachstan [...] An jenem Abend war der russische Präsident einfach nicht transportierbar.“ Jakowlew, von Jelzin nach den Augustereignissen als Chef der staatlichen Fernsehgesellschaft willkürlich ein- und wieder abgesetzt, beruft sich auf seine langjährige Loyalität zum heutigen russischen Präsidenten: „Vor zwei Jahren habe ich mir in einem „offenen Brief“ erlaubt, Ihnen einen Rat zu geben: haltzumachen und einen Blick über die eigene Schulter zu werfen.“ Barbara Kerneck