Symbolik der Wählerverdummung

■ Parteienschlacht um Erst- und Zweitstimmen ersetzt die Argumente Von Florian Marten

Ist der grüne Realissimo Jo Müller, derzeit zwischen Ottensen und Süllberg auf Erststimmenjagd, ein deutscher „Berlusconi“ (SPD-Vorwurf), der schon bald nach gewonnener Wahl von seinem imperialen Firmensitz in der Langen Reihe die Republik aufmischt? Muß ein Florian M. seine Erststimme dem bläßlichen Wolfgang Curilla verehren, um Kohl heim nach Oggersheim zu schicken (SPD-Anzeige)? Hat die grüne Nord-Kandidatin Krista Sager vom CDU-Mann Dirk Fischer schwarze Socken geschenkt bekommen, um damit einst auf der Ostseeautobahn zu lustwandeln (Juso-Flugblatt)? Kann man in Hamburg Gregor Gysi wählen (PDS-Plakat)? Darf das Altenheim Oberaltenallee seinen Kanzler wählen (CDU-Plakat)?

Mit immer neuen Anschlägen auf den politischen Sachverstand des Stimmviehs geht der Bundestagswahlkampf an der Elbe in seine letzte Woche. Die SPD, nervös durch ungewohnte grüne Konkurrenz, und die SED-Geldwäscher von der PDS mit ihrer hochprofessionellen Wahlstrategie – alle Achtung! – tun sich dabei besonders hervor.

Die Parteien streiten nicht um den Umbau der Wirtschaft Richtung Arbeit und Ökologie, die Erneuerung des Staatsapparates in Richtung humane Dienstleistung oder gar um die Existenzfrage sozialer Gerechtigkeit. Im Vordergrund der Auseinandersetzung um „Weiter so!“ kontra „Vielleicht ein bißchen anders?“ stehen die Existenzschlachten von FDP und PDS sowie das eigentümliche und in dieser Form erstmalige Erststim-mengerangel von SPD, CDU und GAL.

Den meisten WählerInnen bleibt dabei völlig verborgen, daß ihre Erststimme bloß für symbolische Aktionen und ein bißchen Personenauswahl taugt, allerdings für die Kräfteverhältnisse im Bundestag keine Rolle spielt (siehe Kasten). Den Parteien geht es vor allem um Symbolik: Die SPD will alle sieben Direktmandate, um zu beweisen, daß sie in Hamburg unangefochten ist. Die CDU braucht den Balsam des einen oder anderen schwarzen Direktmandats in Hamburg, geben die doch Mut, eines fernen Tages vielleicht mal bei den Bürgerschaftswahlen die Nase vorn zu haben.

Erstmals haben auch die Grünen, der SPD viele Jahre lang aus kaum nachvollziehbaren Gründen als billiger Erststimmen-Verleih nützlich (7 Hamburger SPD-Direktmandate bringen der SPD in Bonn keinen einzigen Sitz mehr), die Symbolkraft der Erststimme für sich entdeckt.

Die Kampagnen von Krista Sager in Nord und Jo Müller in Altona, beide nicht per Landesliste abgesichert, zielen erst in zweiter Linie auf den persönlichen Erfolg eines Einzugs in den Bundestag. Die Grünen, so das Kalkül ihrer neuen Strategie, wollen Volkspartei-Qualitäten beweisen, um nicht mehr als Juniorpartner der SPD mißverstanden zu werden.

Krista Sager spekuliert dabei insgeheim schon auf die nächsten rot-grünen Regierungsverhandlungen in Hamburg, die sie, gestärkt durch ein respektables Bundestagsergebnis in Nord, noch weit wirkungsvoller führen könnte.

Gerade bei SPD-Linken hat dieses neue Selbstbewußtsein eigenartige Reaktionen hervorgerufen. Neben der Diskreditierung Müllers als „Berlusconi“ und dem Vorwurf, sein öffentlicher Streit mit CDU-Mann van Hooven diene dem einzigen Zweck, diesen bei ökologisch Gesinnten wählbar zu machen, haben sich die Sozis auf Krista Sager eingeschossen.

Die Jusos der SPD-Nord gaben sich besondere Mühe. Auf einem Flugblatt, betitelt „Wir informieren: Grüne Lady auf scharzen Socken“, verbreiten die Jusos die Nonsens-These, Sagers Kandidatur diene allein dem Zweck, CDU-Mann Dirk Fischer auf Kosten des abgehalfterten SPD-Ex-Senators Curilla nach Bonn zu schicken. Dabei hat Dirk Fischer, Wahlsieg in Nord hin, Curilla-Niederlage her, hat seinen Platz in Bonn über die Liste sowieso sicher.

In Nord geht es allein um die Frage, ob Krista Sager (im Fall ihres Sieges auf Kosten eines anderen Grünen) oder Wolfgang Curilla (im Fall seines Sieges auf Kosten einer anderen Sozialdemokratin) den künftigen Bundestag schmücken.

Derweil haben besorgte Rot-Grün-Freunde für die Vergabe ihrer Erststimme schon längst ein ganz anderes Motiv gefunden: Die Grünen sollen Wahlkreise direkt gewinnen, damit sie auch dann sicher in den Bundestag einziehen könne, wenn sie Schwierigkeiten mit dem Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde bekommen sollten.