Simulationszombis

■ Simone Schneiders "Die Nationalgaleristen" an den Münchener Kammerspielen unter Herzog uraufgeführt

Selten war die Bezeichnung Bild für die Teile eines Theaterstückes so zutreffend wie bei Simone Schneiders Debüt als Dramatikerin. Sie stehen tatsächlich wie drei verbindungslose Momentaufnahmen nebeneinander, in denen eher zufällig immer wieder dieselben Figuren auftauchen. Wir sind in der Nationalgalerie, wer hierher gerät, hat das Problem, daß er nicht mehr weiß, ob er sich von anderen unterscheidet oder nur ein Simulationszombi ist.

„Die nicht mehr ganz so neue Unübersichtlichkeit“ könnte der Untertitel des Stücks lauten, in Jens-Daniel Herzogs Uraufführung an den Münchner Kammerspielen trägt Lolek, einer der Seelenlosen, während des gesamten ersten Bildes folgerichtig auch einen zerlesenen Habermas-Band unterm Arm.

Ob's der einschlägige Titel von 1985 war, konnte aus der Entfernung nicht ausgemacht werden, Herzog, der als Regieassistent an den Kammerspielen sein Handwerk lernte und letztes Jahr mit seiner ersten Inszenierung (Uraufführung von Marlene Streeruwitz' „New York. New York“) überzeugte, ist ein autorengetreuer Regisseur. Im Falle von Simone Schneiders „Nationalgaleristen“ führt das allerdings nicht weit.

Sie will zum Beispiel, daß ihre Figuren hin und wieder zu Skulpturen im öffentlichen Raum erstarren, von den anderen wie Kunstgegenstände beäugt.

Ein etwas gezwungener Versuch, neue Theaterwege zu gehen, die Uraufführung ächzt vor allem im ersten Bild unter der Bürde, den Wesen in der Nationalgalerie zumindest Spuren einer Vor- und Nachgeschichte zu geben. Bei Simone Schneider sind sie lediglich Träger assoziativer Gedankenketten, Schiffbrüchige im Textmeer, die sich immer wieder an Handlungssplitter festklammern wollen, die aus dem Nichts auftauchen.

Alles ist zusammenhanglos, von daher treffen die „Nationalgaleristen“ einen Nerv der Zeit, ob das Stück für die Bühne taugt und nicht eher ein Hörspiel hätte werden sollen, steht auf einem anderen Blatt.

Eine der Seelenlosen heißt Charlotte, eine Enttäuschte, die schrill wird, weil sie nie einen Mann für sich interessieren kann; der seltsame Lolek macht eine Metamorphose vom City-Radikalisten zum angeketteten Asylanten und gekreuzigten Jesus durch; Simon ist ein Zauderer und Verlegenheitsliebhaber wie aus einem Stück von Botho Strauß und das in Ehren gealterte Paar Jeanette und Ullrich mit einer Picknicktasche unterwegs, als könnte man in der geschlossenen Anstalt „Nationalgalerie“ die ganze Welt erwandern.

Pim, der Kamikaze-Rollstuhlfahrer wird gegen Ende des ersten Bildes vom Greifarm seines hochtechnisierten Rollstuhls beinahe ausgeweidet. Chaos bricht aus, und auf der Münchner Bühne geht für kurz tatsächlich alles durcheinander, Sirenen, Polizei, Sanitäter und Kohl aus dem Off. So meint man, wäre dem Text beizukommen, indem das zusammenhanglose Nebeneinander einfach stattfindet und sich hin und wieder Textfetzen herausschälen.

Aber schon folgt das zweite Bild und ein scheinbar völlig anderes Stück, in dem Simone Schneider in herkömmlichem Sinn eine Szene gestaltet. Draußen lauert die Menge, die ins Museum will, drinnen brüten der Museumswärter und die Eingeschlossenen, obwohl die Eingangstüren nicht geschlossen sind und die Grenze zum Kunstraum in beide Richtungen überschritten werden könnte.

Im dritten Bild (wir sind jetzt im Parlament) ist zu den schwarzen, roten, weißen Streben, die die Kammerspielbühne überdimensional und asymmetrisch zerschneiden, ein abgestürzter goldener Bundesadler gekommen.

Die Schwimmer im Meer der Unübersichtlichkeit starten ein letztes Katastrophenunternehmen, Simone Schneider allerdings verliert sich in Welträtseln und füllt das Parlament mit allem und jedem, was die abendländische Geschichte zu bieten hat. Auch hier bleibt Herzog treu auf der Stückspur, hat es aber plötzlich sehr eilig, als hätte er dem Text denn doch nicht mehr so recht getraut. Am Ende hängt Lolek als gekreuzigter Jesus auf einer Plakatwand. Eigentlich sollte Zigarettenwerbung darauf sein, in München läßt man sie weiß. Das eine wäre etwas platt gewesen, der auf Weiß Gekreuzigte erhält einen merkwürdigen Ernst. Jürgen Berger

Simone Schneider: „Die Nationalgaleristen“. Regie: Jens-Daniel Herzog. Bühne und Kostüme: Alexander Lintl.

Mit Ulrike Willenbacher, Axel Milberg, Michael von Au, Jochen Striebeck, Susanna Simon u.a. Kammerspiel München. Nächste Aufführungen: 12., 15., 21., 25.10.