Nein denken, jein sagen, „Ja“ stimmen

Am Sonntag stimmt Finnland über den EU-Beitritt ab / Die Umfragen lassen noch keinen klaren Schluß zu – aber auf der Straße wiegt Vertrauen in Politiker schwerer als die persönliche Skepsis  ■ Aus Helsinki Reinhard Wolff

Ja, es ist klar, daß ich mit Ja stimme. Wir haben ja keine andere Wahl.“ Marc Moberg nimmt noch einen Schluck Bier, stellt das Glas wieder vor sich auf den Tisch und zuckt die Achseln. Er findet es selbst komisch, daß er eigentlich gar nicht viel Ahnung hat, um was es eigentlich geht bei der Frage um Finnland und die Europäische Union. Er studiert Jura, und nach Argumenten für seine Ja-Entscheidung gefragt, fallen ihm nur Nein-Argumente ein: „Sollen wir in unserer schweren Wirtschaftskrise auch noch Geld an die armen EU-Länder zahlen? Und überhaupt, das mit der Demokratie und so.“ Doch seine Entscheidung bleibt „Ja“: „Es geht nicht anders.“

Mervi, die mit am Tisch sitzt, hat eine ähnliche Argumentation für ihr Ja: „Das ist die einzige Möglichkeit, die wir Finnen haben.“ Zusammen versuchen sie, ihr Ja zu erklären, und landen irgendwann beim Hauptargument: „Die Politiker haben ja die eigentliche Kompetenz für all diese Fragen. Und wenn sie sagen, ein Ja sei das Beste für Finnland, dann wird das schon stimmen.“

Das Vertrauen in „die Politiker“ ist tief verankert in diesem dünnbesiedelten Land mit einer 1.000 Kilometer langen Grenze zu Rußland: Nach drei schweren Kriegen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts haben „die“ es nämlich irgenwie geschafft, Finnland in den letzten vierzig Jahren auf einen recht erfolgreichen Kurs zwischen den ehemaligen Blöcken zu führen. Da bedürfte es schon noch schwererer Skandale und tieferer Wirtschaftskrisen als gewohnt, an Marcs und Mervis Grundvertrauen zu rütteln: „Wir müssen jetzt Farbe bekennen. Wie sieht es denn aus, wenn die Politiker ja sagen und das Volk dann nein? Da ist ja die ganze Glaubwürdigkeit Finnlands weg.“

Es ist keine leichte Aufgabe, für die Nein-Seite aktiv zu sein vor der finnischen EU-Volksabstimmung am kommenden Sonntag. Zwar haben sich die – in Finnland allerdings traditionell sowieso recht unzuverlässigen – Meinungsumfragen bei jeweils 40 Prozent für Ja und Nein eingependelt, doch scheint es fast unmöglich, beim Rundgang durch das herbstliche Helsinki einen richtigen Nein-Anhänger zu finden. „Ja“ ist glasklar für den Taxifahrer, den Mann am Zeitungskiosk und die Frau, die die Cafétheke putzt. Und immer das gleiche Argument: „Wir haben keine andere Wahl.“

Die Nein-Seite versucht mit nicht weniger als fünfzehn Organisationen die FinnInnen vom Gegenteil zu überzeugen. Das verschafft ihr aber nicht unbedingt Gehör. Ein Innenstadtbüro, geschmückt mit einem EU-Teufel, der seine langen Hauer fletscht, ist da schon der Höhepunkt sichtbarer Wahlpropaganda in einer auf den Straßen ansonsten unsichtbaren Volksabstimmungskampagne. Die Nein-Seite versucht, auf vielen grauen Bleiwüstenseiten zu argumentieren: ein größerer Kontrast zum knappen Vierfarben-Schlagwortwahlkampf auf Glanzpapier der Ja-Seite ist kaum denkbar. Untereinander sind die Nein-Gruppen auch noch heftig zerstritten über die Gründe, warum die FinnInnen eigentlich nein sagen sollen, was ihre Botschaft noch verwirrender macht. „Ihr großer Stimmenanteil in den Meinungsumfragen“, so der Soziologe Leif Aberg von der Universität Helsinki, „ist von daher eigentlich ein Phänomen.“

Um so mehr, als keine der im Parlament vertretenen Parteien sich für ein klares Nein entschieden hat. Allerdings auch nur die Konservativen für ein klares Ja. Bei Zentrum, Sozialdemokraten, Grünen und Linksparteien gibt es, wenn auch in wechselnder Stärke, Fraktionen für beides. Die parlamentarische Unterstützung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist von daher in Finnland die geringste aller drei nordischen Anwärterstaaten. Nur mit 97 zu 80 Stimmen bei 18 Enthaltungen hatten die Abgeordneten das von der Regierung Aho erreichte Verhandlungsresultat zum Beitritt gutgeheißen. Und viele PolitikerInnen versuchen, sich schon vor der Abstimmung auf alle möglichen Eventualitäten einzustellen. Was dann dazu führt, der Nein- Seite Wasser auf die Mühlen zu leiten. So wenn Außenminister Heikki Haavisto laut darüber nachdenkt, daß Finnland ja ganz schnell neue Beitrittsverhandlungen mit günstigeren Ergebnissen führen könnte, wenn das Volk jetzt mehrheitlich nein sagen sollte.

Mikko Vesa, der das Büro von „Ei EU-lle“ („Nein zur EU“) leitet, freut sich natürlich über solche Äußerungen. Und daß die Nein- Seite im Straßenbild recht unsichtbar ist, bekümmert ihn weiter nicht: „Das meiste spielt sich in den Medien ab, und überhaupt ist die ganze EU-Debatte erst spät in Gang gekommen. Im Sommer haben die Finnen keine Lust, sich mit Politik zu befassen.“

Verständlich, daß die FinnInnen im kurzen hellen Sommer keine übertriebene Lust haben, zu Podiumsdiskussionen zusammenzukommen. Doch auch jetzt sammeln solche vor allem auf dem Lande Publikum: unruhige Bauern, die um ihre Zukunft fürchten und mit über 80 Prozent die größte Nein-Gruppe stellen. Bei den ArbeiterInnen und Arbeitslosen stellen die Neinsager nach den Umfragen 51 Prozent, während die Ja- Seite in der Gruppe der AkademikerInnen die Mehrheit haben soll.

Eine Nein-Mehrheit fällt dabei vor allem bei den Frauen auf. „Sie fürchten um unser System der sozialen Sicherheit“, meint die stellvertretende Vorsitzende von „Alternative zur EU“, Nina Söderlund. „Die Frauen sind am schlechtesten informiert und lassen sich von Gefühlen steuern“, ist dagegen die Einschätzung von Marianne Huttunen von „Naisten Europa“ („Frauen für Europa“). Diese überparteiliche Organisation richtet ihre Ja-Kampagne speziell an die Finninnen, die als Gruppe von 52 Prozent der Wahlberechtigten die Abstimmung entscheiden werden.

Reichlich Geld hat der Staat über „Naisten Europa“ ausgeschüttet, die damit eine Plakataktion in Bussen und Straßenbahnen und Reklamebeilagen in Frauenzeitschriften finanziert hat. Doch die angeblich so schlecht informierten Frauen werden hier nur mit Schlagworten abgespeist: „Frauen entscheiden – stimm Ja!“ und „Du bestimmst – Ja!“ sind da schon die inhaltsvollsten Aussagen der Kampagne.

„Eine Verdummung“, so Nina Söderlund, „aber die Finnen und Finninnen sind so unglaublich anfällig für Autoritäten. Daß die Präsidentenfrau Eeva Ahtisaari bei ,Frauen für Europa‘ mitarbeitet, kann da entscheidender sein als alle unsere Aufklärungsversuche.“

Wenn selbst „Nein“- Sekretär Mikko Vesa mit einem Mehrheits-Ja rechnet, dann, weil er glaubt, daß bei denen, die noch unentschieden in die Wahlkabine gehen, „letztendlich das Gefühl großer Unsicherheit entscheiden könnte“. Die EU war in Finnland noch bis vor drei Jahren kein ernsthaftes Thema. Die kurze Volksabstimmungskampagne hat jetzt keine Zeit übriggelassen, sich mit dem Komplex der Fragen, die eigentlich anstehen, auseinanderzusetzen.

Die überwiegende Stimmung auch unter den PolitikerInnen des Landes war, mit einem Beitrittsgesuch abzuwarten, bis klar war, ob die Nachbarn Schweden und Norwegen EU-Mitglieder werden würden. Der Druck aus Brüssel, entweder mit diesen zusammen gleichzeitig die Beitrittsverhandlungen zu führen oder bis zum Jahr 2000 auf die Wartebank gesetzt zu werden, hat dieses Abwarten unmöglich gemacht. So geht Finnland jetzt als erstes der drei Länder an die EU-Abstimmungsurne.

Was vor einigen Jahren noch nicht einmal Diskussionsthema war – wird es im neutralen Finnland ab 1. Januar nächsten Jahres schon Realität? Wie wenig die Parteien sich ihrer eigenen VertreterInnen sicher sein können, zeigte nicht nur das Beispiel des Ex-Außenministers Paavo Väyrynen, der sich in den letzten Monaten zu einem führenden EU-Bremser entwickelte: Ein paar Jahre warten, nicht nur um einen leichteren Übergang für die mit speziellen nordischen Schwierigkeiten behaftete Landwirtschaft zu bekommen, sondern auch um größere nationale Geschlossenheit gegenüber der EU zu finden, ist seine Botschaft: „Was bringt es, wenn 52 Prozent der Finnen den übrigen 48 Prozent etwas aufdrücken, was sie nicht wollen?“

Und der Verteidigungsausschuß des finnischen Reichstags überraschte zwei Wochen vor der Abstimmung plötzlich mit einem verklausulierten Nein zur EU: Die Mitgliedschaft bedrohe die Neutralität und Blockfreiheit des Landes, da sie letztendlich in der Westeuropäischen Verteidigungsunion (WEU) ende. Fünf Minuten vor zwölf geht plötzlich die Furcht um in Finnland, sich mit der Aufgabe der von der Regierung als „veraltet“ eingeschätzten Neutralität des Landes in Zukunft unüberschaubare Probleme aufzuhalsen: Finnland wäre das einzige EU-Land mit direkter, langer Grenze zu Rußland und daher der vorgeschobene Posten der WEU und möglicherweise Ziel massiver Truppenkonzentrationen diesseits und jenseits der Grenze für den Fall einer konfliktgeladenen Entwicklung in Rußland.

Aber anstatt die FinnInnen in Ruhe abwarten und überlegen zu lassen, haben die skandinavischen EU-Anhänger-Regierungen ihre Volksabstimmungen mit Absicht so gelegt, daß die FinnInnen das erste Wort haben müssen – in der Hoffnung, daß traditionelles Politikvertrauen und grundlegende Unsicherheit letztendlich zu einem Ja zu Brüssel führen werden. Und daß damit der Trend gesetzt wird für die Volksabstimmungen Mitte und Ende November dieses Jahres in Schweden und Norwegen. Aber noch weiß niemand, ob die FinnInnen so „funktionieren“ wie geplant.