■ Die zweite österreichische Republik ist zu Ende
: Haider will Kanzler werden

Sonntag nachmittag jubelten die Funktionäre im Büro der christkonservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP), als die interne Hochrechnung ein bißchen über 27 Prozent kletterte. Da wußte ich, daß die Zweite Republik zu Ende ist. Die SPÖ-ÖVP-Koalition ist jetzt von 75 auf 63 Stimmprozente gesunken, Haiders Freiheitliche Partei (FPÖ) von 17 auf 23 Prozent angewachsen. Das klingt nicht viel, aber wenn Haider mit der ÖVP zusammenginge, hätte er ein knappe Mehrheit von 50,4 Prozent der Stimmen und 94 Nationalrats-Mandate, zwei über der absoluten Mehrheit.

Das ist freilich noch nicht möglich, weil die Mehrheit der Parteiführung gegen solche gewagten Experimente mit rechts ist. Es wird also die schon vor der Wahl versprochene Fortsetzung der Großen Koalition geben. Haider selbst sieht seine Chance darin, die sozialkonservative Regierung durch ständiges Trommelfeuer zu zertrümmern, die ÖVP herauszubrechen und bei Neuwahlen in ein oder zwei Jahren die ÖVP zu überholen und dann selbst an die Spitze einer FPÖ- ÖVP-Regierung zu treten. Seine Chancen stehen nicht schlecht: Die Ruinen des österreichischen Stände- und Kammernstaates sind ein bequemes Ziel. Die Enthüllung von fetten Bonzengehältern in den Arbeiterkammern hat diesmal eine Viertelmillion SPÖ- Stimmen in das Lager des angriffslustigen Wolfs mit den funkelnden Augen getrieben.

Haider hat gelernt, daß er mit bloßen Reminiszenzen an das Naziregime nicht gewinnen kann. Tief sitzt der Schock von 1991, als er mit der Äußerung, Hitler hätte eine „ordentliche Beschäftigungspolitik“ gemacht, seinen Posten als Kärntner Landeshauptmann (Ministerpräsident) verlor. Seither hat er versucht, zusätzlich zu seiner altnazistischen Klientel neue Gruppen in die FPÖ zu integrieren: Die SPÖ-Arbeiter mit fremdenfeindlichen Parolen, konservative Bischöfe wie Kurt Krenn mit Law-and-order-Parolen, die Monarchisten um Otto Habsburg mit Mitteleuropa- Ideen, die führenden Unternehmer mit Modernisierungsprogrammen – die er dann allerdings durch seinen Anti-Europa-Kurs frustrierte.

Nach dem Zweidrittel-Sieg der Koalition bei der EU-Volksabstimmung im Juni hatten viele Haider schon abgeschrieben. Er beweist ihnen, daß er weiterhin imstande ist, Ressentiments aus allen Lagern aufzusammeln. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Rechten mit ihren bloß rückwärtsgewandten Parolen nicht in den Bundestag kommen, erscheint Haider auf dem träge-konservativen Hintergrund der österreichischen Institutionen nicht bloß als Rechtsradikaler, sondern auch als Modernisierer. Michael Siegert, Wien

Redakteur des österreichischen Nachrichtenmagazins „profil“