Rußlands Interessen am Kaspischen Meer

■ Der Putsch in Aserbaidschan und die wirtschaftlichen Ziele Moskaus

Moskau (taz) – Zwei Bilder aus der aserbaidschanischen Hauptstadt haben sich vorige Woche eingeprägt: einerseits das Meer von Menschen, die Präsident Gaidar Alijew angesichts des drohenden Staatsstreiches ihre Loyalität versicherten, andererseits das verschlossene Gesicht des 35jährigen Suret Gussejnow, als er kurz darauf von Alijew und dem Parlament von seinem Ministerpräsidentenposten entlassen worden war. Daß Gussejnow keinen Anteil an der Truppenmeuterei in der letzten Woche und der Besetzung der wichtigsten offiziellen Gebäude in seiner Heimatstadt und Hochburg Gjandja hatte, nimmt ihm niemand ab. Dennoch ließ Alijew ihn nicht verhaften. Er scheint sicher zu sein, daß die Siege an den Fronten der umkämpften armenischen Enklave Nagorny Karabach, die Gussejnow in der Vergangenheit als einziger aserbaidschanischer Heerführer errang, diesem nach der Truppenrevolte nicht mehr die Rolle des Volkshelden garantieren. Die letzte Woche hat gezeigt, daß der alte Fuchs Alijew das Volk geschickter mobilisieren konnte als sein um die Hälfte jüngerer Konkurrent. Für diesen ging kaum einer auf die Straße.

Konnte sich Gussejnow seinerseits bei der von ihm geführten Truppenrevolte auf die im Kaukasus bei jeder Gelegenheit gern heraufbeschworene „Hand Moskaus“ stützen? Vieles spricht dafür. Angelpunkt ist der am 20. September in Bakus Gülistan-Palast unterzeichnete Jahrhundert-Vertrag zwischen der aserbaidschanischen Regierung und westlichen Ölkonzernen. An ihrer Spitze stehen vier US-amerikanische Unternehmen, dazu kommen British Petroleum, eine norwegische und eine türkische Gesellschaft. Zu zehn Prozent wurde auch die staatliche russische Firma Lukoil beteiligt. Aserbaidschan hofft, durch den auf 30 Jahre befristeten Deal in diesem Zeitraum 34 Milliarden Dollar einzuheimsen.

Am Tag nachdem Alijew den Vertrag unterzeichnet hatte, gelang vier seiner wichtigsten – und nebenbei des Mordes angeklagten – politischen Gegner die Flucht aus dem Bakuer Untersuchungsgefängnis. Die Flucht war höchst professionell inszeniert. Wenig später wurden der stellvertretende Parlamentssprecher und ein weiterer Politiker – beide Verbündete Alijews – ermordet. Indessen verkündete Suret Gussejnow rund um die Vertragsunterzeichnung, derartige Dinge dürfte man nur gemeinsam mit dem russischen „Brudervolk“ entscheiden. Bis heute erklärt das russische Außenministerium den Gülistan-Vertrag für rechtswidrig. Hauptargument: das Kaspische Meer sei kein solches, sondern ein Binnensee und unterliege ganz anderen völkerrechtlichen Regelungen.

Auf den ersten Blick verblüfft dieses Verhalten. Wie denn das: Rußland nimmt durch eine staatliche Firma an dem Kontrakt teil und erkennt ihn trotzdem nicht an? Tatsächlich geht es bei der ganzen Debatte schon längst um den nächsten Schritt: Durch wessen Hoheitsgebiet nämlich sollen die Pipelines in den Westen verlaufen?

Die globale Antwort lautet: Wie auch immer, auf jeden Fall durch einen Knoten von Krisengebieten. Von den vier möglichen Wegen führt der von Rußland gewünschte zwar durch offiziell russisches Hoheitsgebiet, ganz nebenbei aber durch das aufrührerische Tschetscheno-Inguschetien. Ein zweiter – den niemand von den westlichen Geschäftspartnern wünscht – durch den Iran. Drittens wäre eine Linienführung durch Georgien denkbar, dessen innerethnische Konflikte noch lange nicht beigelegt sind. Viertens: Durch Alijews aserbaidschanische Heimatprovinz Nachitschewan, dann Armenien und schließlich durch die Türkei. Letztere Regelungen scheinen die Konsortiumspartner des Ölgeschäfts zu bevorzugen. Gleichzeitig würde damit ein armenisch- aserbaidschanischer Frieden, ein Ende des Krieges um Nagorny Karabach also, auf die Dauer wirtschaftlich erzwungen. Aber der – in diesem speziellen Falle – friedenstiftende Westen ist weit, und Rußland ist sehr nah. Sollte der entmachtete Gussejnow als politischer Faktor tatsächlich keine Rolle mehr spielen, könnten destabilisierende Kräfte gegen Alijews Regierung schon in diesem Winter durch das von ihm eben zur Hilfe gerufene Volk wirken: Im Lande wächst die Unzufriedenheit über die Korruption im Getreide- und Brothandel. Barbara Kerneck