Auf dem Computertrip

■ Ein Gespräch mit Umberto Eco über sein neues Buch, das im Frühjahr auf deutsch erscheint, CD-ROM und die Unverwüstlichkeit beschriebenen Papiers

taz: Herr Eco, in Ihrem gerade erschienenen Roman „Insel des vorigen Tages“ beschreiben Sie die Geschichte eines jungen Italieners, der 1643 mit seiner verlassenen Karavelle irgendwo auf den südlichen Weltmeeren herumirrt. Das Schiff droht zu sinken. Der Held, Roberto del la Grive, will sich retten und steuert auf eine ihm fremde, paradiesische Insel zu. Aber er kann sie nicht erreichen. Auf der unendlichen Fahrt dahin schreibt er Liebesbriefe, die in traumatischer Weise sein Zeitalter und den Sinn des Dreißigjährigen Krieges reflektieren. Wofür steht die Insel in Ihrem Buch? Wo könnte sie heute angesiedelt sein?

Umberto Eco: Wenn Sie mit Ihrer Frage meinen, ob die Insel als Symbol für etwas gewählt wurde, was unsere Tage betrifft, dann, muß ich sagen, irren Sie sich. Ich habe sie nicht in den Mittelpunkt meiner neuen Erzählung gestellt, um heutige Mängel zu erklären. Die Insel ist seit Ulysses ein Archetyp in der gesamten Literatur- und Kunstgeschichte. Sie ist eine unheimlich dichte Metapher, die die unterschiedlichsten Interpretationen und Assoziationen hervorrufen kann. Diese zu stimulieren, war die einzige Intention des Autors. Sie können den dritten Weltkrieg oder die Ökokatastrophe darin erahnen, Sie können mit deren Hilfe aber auch den Untergang der Moderne deuten. Hier symbolisiert die Insel zunächst nur das Mosaikbild aller Wünsche und Träume der Hauptfigur. Weil auch heute viele unerfüllte Wünsche und Träume die Menschen bewegen, kann der Leser sich sehr gut in die Geschichte hineinversetzen, aber eine direkte Verbindung zu aktuellen Entwicklungen war von mir jedenfalls nicht geplant.

Der Protagonist Roberto kommt aus dem Piemont. Auch Sie sind „Piemontese“. Wieviel Autobiographie steckt in der „Insel des vorigen Tages“?

Wissen Sie, ich glaube, ein Autor benutzt und verarbeitet immer seine persönlichen Erinnerungen, vor allem der Kindheit und der Jugend. Er verteilt sie oft auf verschiedene Charaktere oder vereint sie in einer einzigen Figur, die Elemente seiner eigenen und einer anderen Biographie innehat. Sonst würde man ständig „Mein Leben, geschrieben von mir selbst“ als Fortsetzungsroman schreiben müssen. Aber das Piemont ist für mich sehr wichtig. Als ich vor ein paar Tagen den „Grinzane“-Preis der Piemont-Region verliehen bekam, habe ich eine interessante Beobachtung an mir selbst gemacht: Während meine gesamte akademische Produktion keinen Reflex meiner „ethnischen“ Herkunft aufweist – der Heilige Thomas war Campanier und Joyce Dubliner –, sind meine Romane fast alle von der norditalienischen Gegend beeinflußt. Es fängt beim Ort des Klosters „Im Namen der Rose“ an, setzt sich mit reichlichen Hinweisen im „Foucaultschen Pendel“ fort und hört eben bei Roberto in der „Insel des vorigen Tages“ auf.

Ist die „Insel des vorigen Tages“, die im kommenden Frühjahr im Hanser Verlag erscheinen wird, auch ein Plädoyer, den eigenen Verstand nicht verkümmern zu lassen und der Hochtechnologie weniger zu vertrauen? Der Schiffbrüchige in Ihrem neuen Roman hat außer Papier und Feder keine Hilfsmittel der Erinnerung mehr.

Autoren sollten sich davor hüten, die eigenen Werke auszuleuchten. Dennoch, der Sinn meiner Geschichte erinnert – wenn Sie so wollen – an eine 30 Jahre alte Novelle von Isaak Asimov, in der die Menschheit nur noch über Computer funktioniert. Es gibt einen großen planetarischen Krieg, und die EDV-Netze erleiden einen Blackout. Die Computer fallen total aus. Staatliche Organe finden den einzigen Mann, der noch das Einmaleins auswendig kann. Er wird zum größten militärischen Geheimnis erklärt. Denn einen Menschen zur Verfügung zu haben, der weiß, daß drei mal drei neun ist, während es alle anderen mit den bequemen Computern vergessen haben, wird viel wichtiger, als im Besitz der Atombombe zu sein.

Der Computer ist zur Unterstützung unseres Wissens nützlich. Ein massives Problem unserer Zeit ist jedoch, wie wir unseren Verstand wieder schärfen können. Viele lassen es mit der Flimmerfrequenz des Fernsehens einfach verkümmern. Man sollte den Schulen auferlegen, wieder Gedichte rezitieren zu lassen. Zum Glück lernen die Jugendlichen ja noch all die Namen der Fußballspieler auswendig. Das ist auch eine Methode, den Verstand auf Trab zu halten. Trainingsschwierigkeiten gibt es selbst in meiner Zunft. Da gibt es zwar einen Proust, aber auch Autoren, die nur über Raumschiffe schreiben.

Über 400 Verleger präsentierten bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse moderne „Bücher“: CD-ROM. Als virtueller Buchersatz wurden sie ja schon 1993 eingeführt. Aber letztes Jahr gab es gerade mal hundert Anbieter. Sie selbst haben am vergangenen Samstag eine multimediale Enzyklopädie auf CD-ROM vorgestellt, die Sie zusammen mit Experten von Olivetti und italienischen Wissenschaftlern geplant und überarbeitet haben. Fürchten Sie nicht das schleichende Ende des Gutenberg-Zeitalters?

Roboter haben zwar Arbeitsabläufe revolutioniert, aber Hammer und Zange gibt es nach wie vor. Dem Buch wurde schon oft das Totenglöckchen geläutet, zum Beispiel als Radio und Fernsehen erfunden wurden. Aber die Kulturpessimisten können beruhigt sein: Das Buch ist ein unverwüstliches Werkzeug für die Seele. Abends im Bett, auf einer einsamen Insel oder unter Bäumen ist das klassische Buch unersetzbar. CD-ROM eignen sich ausschließlich für Werke des öffentlichen Gebrauchs; für den intimen sind derartige technische Spielereien unpraktisch und albern. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Ihrer Geliebten ein Gedicht vorlesen und beginnen auf Ihrem tragbaren Mini-PC herumzutippen. Bis Sie die interessante Stelle gefunden haben, ist alles Sinnliche, jede Erotik an einem Computerchip hängengeblieben und die Dame längst über alle Berge.

Es gibt keinen Grund, Angst vor der neuen Entwicklung mit CD-ROM- Literatur zu haben. Im Gegenteil. Allein, wenn man den Bildungs- und Forschungsbereich betrachtet, bringen CD- ROM kostbare finanzielle, räumliche und gesundheitliche Vorteile.

Lebt man denn ohne Brockhaus im Regal gesünder?

Jeder Bibliophile, jeder Student leidet wie ich unter einer besonders typischen und hartnäckigen Berufskrankheit – dem Tennisarm. Der ist der Unzahl an Enzyklopädien und lexikalischen Kompendien geschuldet, die man ununterbrochen konsultieren muß. Sie aus den Regalen zu nehmen und wieder hinzustellen, erfordert viel Kraft und Kondition. Professoren und Studenten, die künftig mit CD-ROM arbeiten, werden im Alter weniger Rücken- und Haltungskrankheiten haben. Die wissenschaftlichen Vorteile dieser Plastikwälzer liegen auf der Hand: Forscher, die das Auftreten und die Verwendung des Wortes „Katze“ in der Poesie einer bestimmten Zeit analysieren wollten, brauchten für die Recherche etwa zwei Jahre. In Zukunft reicht ein Knopfdruck auf dem Computer. Das ist ökologisch, weil damit große Energieverschwendungen vermieden werden, und wirtschaftlich, weil Hausarbeiten von Studenten und Studien schneller und konzentrierter verfaßt werden können. Außerdem sparen die obligaten Nachschlagewerke auf CD- ROM große Regalflächen in den Institutionen und Privathäusern. Denken Sie nur an diejenigen, die gerne eine Enzyklopädie hätten, aber keinen Platz in ihrer Wohnung.

Apropos Ökologie: Vor zwei Jahren haben Sie ein pessimistisches Märchen für Kinder geschrieben („Die Gnome von GNU“), in dem es um den Umweltkollaps ging. Warum zählt dieses Thema in der italienischen Literatur kaum?

Weil wir das Volk sind, das kleine Singvögel erschießt und ißt. Ich hoffe auf die nächsten Generationen. Dank der Massenmedien respektiert heute ein Kind einen Baum mehr, als es ein Kind meiner Generation je getan hat. Die Kinder von heute klären die Mütter über die Gesundheitsgefahren des Rauchens auf und verbieten ihnen, überall Papiermüll hinzuschmeißen. Früher war es umgekehrt. Und es sind die Väter, die die Hunde auf der Autobahn aussetzen, die Kinder würden sie behalten. Als wir Kinder waren, haben wir Hunde mit Füßen getreten. Man muß eben warten, bis die Väter sterben, dann wird es auch in der schöngeistigen Literatur mehr grüne Themen geben.

Interview: Franco Foraci