piwik no script img

Rückschritt für Behinderte

■ Behinderte kritisieren schlechtere Versorgung durch geplante Novellierung des Berliner Pflegegesetzes

Drei Behindertenorganisationen überreichen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) heute rund 1.500 Unterschriften, mit denen sie gegen die Neuregelung des Berliner Pflegegesetzes protestieren. Sie wollen nicht hinnehmen, daß mit der Einführung der bundesweiten Pflegeversicherung im April 1995 – entgegen Stahmers Äußerungen – nicht für alle Bezieher des Berliner Pflegegelds ein Bestandsschutz gilt.

Während für Blinde, Sehbehinderte und Gehörlose auch nach dem 1. April 1995 die Leistungen nach dem Berliner Pflegegesetz erhalten bleiben und sie auch Neuanträge stellen können, werden alle Pflegebedürftigen, die nach diesem Stichtag zum Pflegefall werden, auf die bundesweite Versicherung verwiesen. Darin sieht der „Spontanzusammenschluß Mobilität für Behinderte“ eine eklatante Verschlechterung. Denn ein Rollstuhlfahrer, der nur zweimal die Woche Hilfestellung beim Baden braucht und gelegentlich eine Haushaltshilfe, kann dies mit seinem Berliner Pflegegeld finanzieren. Nach der bundesweiten Pflegeversicherung wird dieser Personenkreis aber leer ausgehen. Denn sie setzt erst bei einem Pflegebedarf von mindestens anderthalb Stunden täglich ein. Wer nach dem Stichtag zum Beispiel durch einen Unfall im Rollstuhl landet und sozusagen nicht pflegebedürftig genug ist, muß selbst sehen, wie er zurechtkommt.

Michael Eggert vom Spontanzusammenschluß zufolge werde die Möglichkeit eingeschränkt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Es gibt keine Notwendigkeit zu einer Novellierung, außer, um zu sparen.“ Er kritisiert außerdem, daß Pflegegeldempfänger nach der Novellierung zwar von einer höheren in eine niedrigere Pflegestufe heruntergestuft werden können, es bei einer Verschlimmerung ihres Zustandes aber keine Möglichkeit gibt, hochgestuft zu werden.

Für den Erhalt des Berliner Pflegegeldes hatten sich 23 Behindertenorganisationen in einer Resolution ausgesprochen. Auch Brigitte Engler, sozialpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, hält die Neuregelung für eine „nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung“.

Rita Herrmanns, Pressesprecherin der Sozialsenatorin, erklärt dies so: Das Berliner Pflegegeld soll die Sehbehinderten oder Gehörlosen in die Lage versetzen, ihre Behinderung auszugleichen. Die „Hilflosen“ fallen dagegen in die Zuständigkeit der Pflegeversicherung. Weil Bundesrecht Landesrecht breche, könne der Bestandsschutz für diesen Personenkreis nicht gelten.

Ein Argument, das Bernd Köppl von Bündnis 90/Die Grünen nicht gelten läßt: „Eine versicherungsrechtliche Lösung des Pflegeproblems ist von landesrechtlichen Regelungen unabhängig.“ Die beitragsfinanzierte Pflegeversicherung müsse „nicht automatisch“ dazu führen, daß steuerfinanzierte Gesetzesleistungen abgebaut werden.

Die geplante Novellierung des Berliner Pflegegesetzes werten die Bündnisgrünen als Versuch, „unter fadenscheinigen Argumenten Errungenschaften einer modernen Behindertenpolitik in Berlin zurückzudrehen.“ Sie fordern, daß das Berliner Pflegegeld erhalten bleibt und mit den Leistungen der Pflegeversicherung verrechnet wird. Dorothee Winden

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen