■ Rückblick auf ein „Super“-Wahljahr: Das Vakuum
Die am häufigsten gestellte Frage dieses Jahres ist die Sonntagsfrage. Kommenden Sonntag findet sie ihre definitive Antwort. Das ist ja auch schon was.
Doch der Wählerwille ist längst umzingelt. Nie zuvor wurde so intensiv prognostiziert. Ob das noch mit Politik oder doch schon mit Unterhaltung zu tun hat, ist mittlerweile so umstritten wie unerheblich. Klar ist nur: Die fortlaufende Prognose bleibt unverzichtbar. Sie sorgt für Trubel an der Börse und hilft, das Vakuum zu füllen, das der Wahlkampf hinterläßt. Gegen die inhaltliche wie atmosphärische Auszehrung setzt sie die Spannung, die aus den Kurven kommt. Das Drama aus Erfolg und Scheitern – hier wird es simuliert, antizipiert – produziert? Mal ehrlich, ohne die Wahrsager hätten wir das „Superwahljahr“ vielleicht doch nicht überstanden.
Natürlich wurde auch über Politik gestritten. Es wäre unsinnig, wollte man die Differenzen zwischen den beiden Volksparteien, deren Kampagnen den Wahlkampf dominieren, in Abrede stellen. Nur, eine Perspektive auf die künftige Bundesrepublik hat die politische Dauerbewerbung nicht eröffnet. Die Summe aller Einzelforderungen und -korrekturen macht keine politische Botschaft, keine Reformdebatte, deren Funke auf die Gesellschaft hätte überspringen können.
Das könnte ja am Mangel an Themen liegen. Aber gab es keine Zukunftsthemen in diesem Wahljahr? – Alle haben die Arbeitslosigkeit zum zentralen Problem erklärt. Nur die Kontroverse über die Umverteilung der Arbeit blieb aus. Ökologie? Immer ein Thema. Doch wo ließ die Wahlkampfdebatte den Willen erkennen, die ökologische Wende ernstlich zu versuchen? Die künftige Außenpolitik der Bundesrepublik und die Einsatzmodalitäten ihrer Armee? Eine existentielle Frage, über die in der kommenden Legislaturperiode gestritten wird. Nur im Wahlkampf wurde das Thema einfach versteckt. Einwanderung und Integration? Vollends Fehlanzeige.
Daß Wahlkämpfe politisches Vakuum produzieren, ist kein zwangsläufiger Prozeß. Wer behauptet, kenntliche, kontroverse Antworten auf Zukunftsfragen seien nicht wahlkampftauglich? Der Brandt-Wahlkampf 1972 beispielsweise verlief als polarisierte Auseinandersetzung um die neue ostpolitische Weichenstellung, als Kampagne mit großer gesellschaftlicher Resonanz. Sie basierte auf einem hochkontroversen Konzept und dem Willen, es im Wahlkampf zu inszenieren. An den historischen Erfolg erinnern sich die Sozialdemokraten gern. Nur die Methode bereitet ihnen heute sichtlich Unbehagen.
Kritik und Perspektive. Es ist die Aufgabe der Opposition, ihre Herausforderung zu inszenieren, ihre Ziele faßlich und konfrontativ zu bündeln. Statt dessen nur die ganze Fülle der Korrekturen. Kindergeld, Beschäftigungsförderung, Abwrackprämie. Keine Botschaft, auch eine Botschaft: Kontinuität.
Doch auf diesem Feld herrscht die Regierung. Sie verweist auf ihre Leistungen und folgert hieraus den Anspruch auf den Machterhalt. Damit und mit der PDS-Kampagne ist der Kohl-Wahlkampf in seinen Grundzügen bereits beschrieben. Der Rest war – zugegeben gelungenes – Styling. Kohl kam aus der Tiefe der Nach-Heitmann-Depression. Das machte die Dramatisierung. Als er die Krise hinter sich hatte – Konjunktur, Herzog, Europawahl –, prangte er auf allen Werbeflächen. Kohl, der seit seinem Amtsantritt abschließende Urteile provozierte, jetzt zog er plötzlich, in seiner ganzen massigen Unscheinbarkeit, als Rätsel in den Wahlkampf. Allbekannt. Sagenhaft. Die konservative Kampagne, eine Kanzler- Beschwörung.
Eine Weile lang erschien die auf Berechenbarkeit und Vertrauensbildung angelegte Strategie der SPD erfolgversprechend. Scharping durfte auf den Wechselwillen der WählerInnen hoffen, ohne deren Veränderungsbereitschaft ernstlich testen zu müssen. Das Experiment des Machtwechsels, erkauft mit dem untergründigen Versprechen: Veränderung ohne Zumutung. Von dieser Weichenstellung für eine sehr deutsch anmutende Oppositionskampagne hat sich der Wahlkampf der SPD nicht mehr erholt.
„Sicherheit statt Angst“. Entsprang der Europawahlslogan wirklich einer Analyse der gesellschaftlichen Stimmungslage? Oder kam die Parole nicht doch eher aus der Projektion einer verunsicherten Partei? Etwas von der in zwölf Jahren gewachsenen Mutlosigkeit, dem Verschleiß in der Opposition, dem Frust, immer und immer wieder am Machtpolitiker Kohl gescheitert zu sein. Hat sich die SPD keine Herausforderung zugetraut, weil sie zu oft Kohlschen Herausforderungen unterlegen ist? Man ahnt, daß die SPD darauf vorbereitet war, als die Kurven, irgendwann im Mai, wieder knickten. Doch aus der eigentümlichen Mischung aus Wechselwillen und Mutlosigkeit wurde unvermittelt Waghalsigkeit. Scharping unter Druck probte den Hasardeur. Als Bruch seiner auf schiere Berechenbarkeit angelegten Kampagne, auch als undurchdachter Tabubruch bleibt „Magdeburg“ ein unverzeihlicher Fehler. Ein Risiko ohne jede Erfolgschance.
Ein anderes Risiko will die SPD bis heute nicht eingehen. Dabei würden alle Angriffe gegen Rot- Grün – angesichts der Volksfrontkampagne – verblassen. Doch ausgerechnet an diesem Punkt bleibt Scharping stur. Der Verzicht auf eine Reformidee und das Fehlen einer Bündnisperspektive gehören zusammen. Keine Botschaft, kein Partner. Nie zuvor haben die Grünen derart für ein rot-grünes Bündnis geworben. Doch alle Avancen wurden von Scharping als Mischung aus Kinderei und Unverantwortlichkeit abgewiesen.
Kämpft die SPD wieder für eine eigene Mehrheit? Immerhin, an ihrer Entschlossenheit zum Wechsel muß niemand ernstlich zweifeln. Doch selbst die spät ausgerufene Troika, der dreifach personifizierte Wille zum Machtgewinn, hat das Reformansinnen nicht präzisiert. Das Angebot ist breiter geworden, geschlossener, entschlossener. Um so dröhnender die Frage nach dem Wofür. Für den „Kanzlerwechsel“?
Oder hat die Union den Kanzler doch zu früh plakatiert? Schlägt die Faszination der gelungenen Inszenierung in Überdruß um? Hat sich im demagogischen Effet, mit dem Kohl und Hintze das PDS- Thema aufgriffen, die Beunruhigung der Union verraten, das Kohl-Programm reiche vielleicht doch nicht bis zum Wahltag?
Längst ist die Angst vor dem, der Glaube an den Wechsel Stimmungssache. Alles kapriziert sich jetzt auf die arithmetischen Unwägbarkeiten: Ein paar tausend Stimmen mehr oder weniger für Stefan Heym, ein paar tausend mehr oder weniger für die Liberalen, und die präparierten Trends entpuppten sich am Ende doch noch als irreführend. Pech für die Demoskopen? Glück für die Zaghaften?
Resthoffnung. In den Sinn kommt einem das zischende Geräusch, wenn nach dem Stich in die verschweißte Kaffeepackung die Luft das Vakuum löst. Keine sehr politische Vorstellung. Matthias Geis
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