Ein Mathematikprofessor hält die Wahlvoraussagen der Demoskopen für kriminelle Wählertäuschung und „Hokuspokus“. Er kann sich dabei auf viele Fehleinschätzungen der Institute bei früheren Wahlen berufen. Ein Meinungsforscher wehrt sich gegen diese Thesen, meint aber auch: „Nichts ist entschieden, gewählt wird am Sonntag“ Von Walter Jakobs

Prognosen für den Staatsanwalt

In Wahlzeiten arbeiten Demoskopen rund um die Uhr. Keine Zeitung ohne „Wahlbarometer“, kein Sender ohne die berüchtigte Sonntagsfrage, jede Woche ein neues Stimmungsbild mit fast immer der gleichen Botschaft: Die Bonner Koalition scheint unabwählbar. Auch die auf Länderebene zur Splitterpartei geschrumpfte FDP sehen die Auguren wieder im Bundestag. Tanzt jemand mal aus der Reihe – wie vor ein paar Tagen der Dortmunder Forsa-Chef Manfred Güllner –, gibt es von der Zunft Prügel ohne Ende. Güllners Abgesang auf die Liberalen – „die FDP liegt mittlerweile auch bundesweit unter fünf Prozent“ – kritisierten die Institute Emnid, Basis Research, Marplan, Forschungsgruppe Wahlen und das Institut für Demoskopie in Allensbach unisono als „unmöglich“. FDP-Generalsekretär Hoyer erkannte darin gar den „üblen Versuch, mit Demoskopie Wahlen zu beeinflussen“. Ganz still bleibt Hoyer dagegen, wenn er in die FAZ sieht. Dort bescheinigt ihm die Allensbach- Chefin Elisabeth Noelle-Neumann nun schon seit Jahresbeginn Werte zwischen sieben und 9,5 Prozent. Die FDP auf Wolke sieben.

Für den Wuppertaler Mathematikprofessor Fritz Ulmer dokumentieren alle diese Zahlen nur eins: „die systematische Wählertäuschung in wissenschaftlicher Verpackung“. Weil das Treiben der Demoskopen den „juristischen Tatbestand der Täuschung erfüllt“, ruft der Professor immer mal wieder nach dem Staatsanwalt. „Getäuscht werden diejenigen Wähler, die ihre Wahlabsichten wegen Umfrageergebnissen ändern. Etwa weil sie nicht wählen gehen, in der Annahme, daß Wahlergebnis stehe schon fest, oder weil sie aus taktischen Gründen ihre Zweitstimme einer anderen Partei geben, als sie ursprünglich wollten.“

Lotterieschäden, Modell- und Interviewfehler

Die beliebten Wahlbarometer auf der Basis von 1.000 oder 2.000 Interviews hält Ulmer schlicht für „statistischen Betrug“. Der per Lotterie zusammengestellte sogenannte „repräsentative Querschnitt“ verkörpere alles andere als ein authentisches Miniaturbild der Gesellschaft. Lotterieschäden, Modellfehler und Interviewfehler machen die Umfrageergebnisse für Ulmer „unbrauchbar“. Gerade bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen, so schreibt der Demoskopenkritiker in seiner gerade erschienenen Broschüre „Der Dreh mit den Prozentzahlen“, „wo wenige Prozente über Gewinn und Verlust der Macht entscheiden, oder sogar Bruchteile von Prozenten eine Partei an der Fünfprozenthürde scheitern lassen können“, seien von den Umfragen „keine brauchbaren Aussagen“ über die zu erwartende Parteienstärke zu erwarten. Als Beispiel analysiert Ulmer das ZDF-„Politbarometer“ vom August und kommt zu dem Ergebnis, daß etwa die SPD mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 32 und 40 Prozent erhält – genauere Aussagen seien wissenschaftlicher Hokuspokus. Bei den kleinen Parteien beträgt die Marge nach Ulmer plusminus zwei Prozent – und je nachdem kommen sie über die fünf Prozent oder nicht. Das heißt, daß sich über die politische Konstellation vor Sonntag, 18 Uhr noch gar nichts aussagen läßt.

Für die Abweichung zwischen Prognosen und Wahlergebnissen kann Ulmer ein paar berühmte Beispiele zitieren: Kaum eine andere aus der Zunft hat sich häufiger mit ihren Vorhersagen so blamiert wie Kohls Lieblingsdemoskopin Noelle-Neumann. Noch am Abend der Bundestagswahl 1990 sah sie die Grünen in Sat.1 bei 8,5 Prozent. Dann folgte die Auszählung, und die Grünen saßen mit 4,8 Prozent vor den Toren des Bundestages. Ihren GAU erlebte die forsche Prophetin bei der Landtagswahl im Saarland am 10. März 1985. Die SPD sah sie „deutlich geschwächt“ im Abwärtstrend, die CDU mit 47 Prozent auf dem Sprung zur absoluten Mehrheit. 1,9 Prozent für die FDP und 6,5 Prozent für die Grünen lautete die Botschaft für die Kleinen. Das war Stuß: Die CDU stürzte mit 37,3 Prozent ab, Lafontaine schaffte mit 49,2 Prozent die Mehrheit, die FDP erzielte zehn Prozent, und die Grünen scheiterten kläglich mit 2,5 Prozent.

Auch bei der baden-württembergischen Landtagswahl 1992 landete die konservative Eiferin wieder im Abseits. Noch am Donnerstag vor der Wahl machte sie der CDU Hoffnung auf eine absolute Mehrheit, und den Reps traute sie ganze 4,9 Prozent zu. Diese Stimmungsmache zugunsten der CDU rief seinerzeit die Forschungsgruppe Wahlen auf den Plan.

Noelle-Neumanns Stimmungsmache

„Wir waren über diese Aussagen sehr erregt“, erinnert sich Dieter Roth. „Für uns war es damals keine Frage, ob die Reps die Fünfprozenthürde schaffen würden, sondern es war allenfalls fraglich, ob ihr Ergebnis ein- oder zweistellig ausfallen würde.“ Die Reps erzielten 10,9 Prozent, die CDU stürzte ab. Auch bei der Einschätzung der Grünen lag die Forschungsgruppe 1990 besser als die Allensbacher Konkurrenz. 5,5 Prozent gaben die Mannheimer seinerzeit der Ökopartei unmittelbar vor der Wahl. „Wir waren die einzigen, die führende grüne Politiker vor dem Absturz gewarnt haben“, sagt Roth heute. Bei der hessischen Kommunalwahl lagen die ZDF-Hausdemoskopen dann aber auch voll daneben. Noch zwei Tage vor der Wahl zeigte sich die Forschungsgruppe fest davon überzeugt, an der politischen Struktur in Hessen werde „sich nicht so sehr viel ändern“. Tatsächlich brach die SPD von 44,8 Prozent auf 36,4 Prozent ein, und die Reps, denen das Bonner Infas-Institut seinerzeit nur „in einigen Städten und Landkreisen“ mehr als fünf Prozent einräumte, schafften landesweit 8,3 Prozent.

Trauen kann man den demoskopischen Stimmungsbildern deshalb nur sehr bedingt. Auf jeden Fall gilt die Daumenformel, je bewegter die Zeiten, um so geringer die Trefferquoten. Weil die Experimentierfreudigkeit auf Bundesebene beim Wahlvolk weit weniger ausgeprägt ist als auf allen anderen politischen Ebenen, hat Kohl gewiß gute Chancen, aber entschieden ist noch nichts.