Aber die Liebe

■ Tim Fischer: Der einzig wahre Chansonnier Norddeutschlands, derzeit zu Gast im Jungen Theater

Keine Nelke im Knopfloch! Im Scheinwerferlicht taucht auf: eine prachtvolle blaue Iris, befestigt an einer weiten Jacke, in die Tim Fischer gehüllt ist.

Tim Fischer ist ein schmales Hemd. Wenn er sehnsuchtsvoll in die Ferne fragt: „Was ist die Liebe?“ und ernüchterten Blicks feststellt: „Ein Stern in einem Haufen Mist“, da irritiert das Fazit der Lebenserfahrung aus dem Mund des Jünglings. Aber bald amüsiert sich der schöne Narziß über den „starken Tobak“ seiner Lebensklugheiten schon selbst. Das Mikro lässig in der Hand, bekennt der Delmenhorster kokett: „Ich machte mir schon auf der Schulbank Injektionen – mit Tinte – und schmierte mir Kokain auf's Brot“. Da dämmert es langsam auch den drei Moosröschen auf den Bistrotischen: Tim Fischer ist Sonderbeauftragter der Fraktion „Schneller Leben“.

Wo Gleichaltrige von der Freiheit der Interrail-Karte träumen, hat der zarte Sänger mit den Dandyallüren schon die Tiefschläge einer typischen Musikerkarriere wegstecken müssen. Aber die Achterbahn nimmt jetzt wieder Schwung. Mit der „...und habt mich gern“ –Tournee, die Fischer zur Zeit nach Bremen führt, feiert der 21jährige bereits sein Comeback.

Dabei fing alles so schön an. Mit eleganten Bewegungen streicht sich Tim die Locken aus dem Gesicht, als wir uns in der Herbstsonne im Gartencafe gegenüber sitzen. Seine Eltern, die Rock-Musik hören - eine Musikrichtung, die der Junge spontan verabscheut - hätten ihn eigentlich nie verstanden. Jetzt, wo der Erfolg da ist, sind sie halt stolz auf ihn, wie alle Eltern, seufzt er über seiner Cola. Am schlimmsten habe er in der Oldenburger Waldorfschule gelitten. Tims mädchenhafte Neigungen führten zu ständigen Konflikten. Gern hätte er beim Stricken und Häkeln mitgemacht. Ein Unding in der auf strikte Geschlechtertrennung bedachten Erziehungsanstalt. Zur Strafe schickt man ihn zum Praktikum ins Altenheim nach Oldenburg; das sei zwar hart gewesen, aber immerhin ein Weg hinaus. Mittlerweile hat der orientierungslose Knabe einen rettenden musikalischen Strohhalm gefunden. In einem An- und Verkauf entdeckt er mit neun Jahren eine Cassette mit Zarah Leanders Liedern – und ist sofort hin und weg. Seine neuen Freundinnen im Pfegeheim teilen seine ungewöhnliche Vorliebe. Mit Zarahs Songs träumt Tim sich aus dem Elend der Provinz hinaus. Irgendwann zwischen zwölf und vierzehn, ganz genau weiß er das Datum nicht mehr, fährt er nach Paris (natürlich ohne ein Wort Französisch, in der Waldorfschule lernt man Russisch), und besucht Marlene Dietrich. Einen riesigen Strauß roter Rosen habe er ihr vor die Tür gelegt. Als er wieder unten vor dem Haus steht, bewegt sich die Gardine und die Göttin winkt herunter. Danach sei er so aufgeregt gewesen, daß er sich an nichts anderes von dieser Reise mehr erinnern könne. Voller Andacht zieht er jetzt an seiner Zigarette.

Tim Fischers Bühnenkarriere beginnt im Capitol in Oldenburg. Damals „ein runtergekommenes Cafe , wo Aldi früher drin war.“ Mit zwölf Jahren steht Tim auf der Bühne und weiß fortan: „Das ist das Einzige, was mich wirklich glücklich macht.“ Nun beginnt das, was man eine Karriere nennen könnte, wenn sie nicht in Tim Fischers Fall auf ganz unmoderne Weise mit seinem Leben verbunden wäre. Kein Image-Kampagne, kein Marketing-Konzept, keine Trennlinie der Bürgerlichkeit scheint zwischen Bühne und Leben zu stehen. Tim richtet sich im Halbseidenen, im Windfang irgendwo zwischen Kunst und Prostitution ein.

Er verliebt sich meist unglücklich , die Themen der Chansons aus dem Berlin der 20er Jahre sind seine Welt. Tim Fischer wird zur Kunstfigur seiner Lieder, eine gefährliche Existenz wie sich erweisen soll. Die Hamburger Reeperbahn wird für den 17jährigen zum Zuhause. Hier schafft der Junge aus Delmenhorst auf Anhieb den Sprung von der Entdeckungsrunde am Tresen in die berühmte Mitternachtsshow des „Schmidts“. Tagsüber habe er, die 10. Klasse gerade beendet, sein Geld durch öde Büroarbeiten im mittlerweile florierenden Nachtlokal verdient.

Der große Erfolg kommt mit dem eigenen Programm: „Zarah ohne Kleid“, eine Inszenierung, die bewußt auf den Pailetten- Schnickschnack und weibliche Kostümierung a la Leander verzichtet und doch den Geist der Diva auf's Beste neu interpretiert. Jetzt reißen sich alle um den Jungen mit der großen Stimme. Berlin lockt und verführt zur Hysterie. Er habe lange gebraucht, um die Gefahr zu verstehen, weiß Tim Fischer heute. Fast brutale Lieder wie Fassbinders ,,Freitag im Hotel“, das drastisch vom Selbstekel der gekauften Liebe berichtet, zeugen von dieser Phase. Wenn Tim Fischer diese Lieder heute auf der Bühne singt, ist die Choreographie verwegen: Der Flügel wird zugeklappt zum Bett, in dem die Schlachten der Liebe geschlagen werden. Kurz nach dem Mauerfall treibt es ihn in eine weitere hoffnungslose Liebe, „ein verheirateter Mann, mit Familie“ und in das klassische Rock'n Roll Schicksal: „Life fast, die young!“ - die Drogen eben.

„Es schien plötzlich viel einfacher zu sterben, als sich noch einmal aufzurichten.“ Als ihn Peter, heute sein Freund und Impressario, endlich in seinem Bauwagen am Potsdamer Platz findet, ist er abgemagert, ein Bild des Jammers. Der Vertrag lautet: Keine Drogen, dafür gibt's Peters Gästezimmer und pro Tag drei Steaks. Die Kur schlägt an, Tim kommt wieder auf die Beine.

Heute, nach der Krise, hat sich nicht nur der Umgang mit dem Erfolg verändert, auch die Lieder, die Tim Fischer singt, sind andere geworden. Die Zarah-Nummer sei eh nur noch Zitat, längst habe er versucht, andere Texte zu finden. Aber „entweder sind die Lieder, die man für mich schreibt, traurig, dann sind sie ganz traurig, oder sie sind lustig, dann ist es auch langweilig. Diese Zwischentöne, wo im Abgrund noch das Lachen ist, die sind schwer zu finden.“ Ein Glücksfall ist der kleine Liederzyklus, den die Lyrikerin Lioba Happel für Tim Fischer geschrieben hat. Ein sprachlicher Hochseilakt mit bizarren Kontrasten, die auch in der Vertonung von Franz Hummel wieder aufscheinen.

Es ist diese aufregende Kombination von Gegensätzen, die Tim Fischers Bühnenshow auszeichnen. Als würde er beim nächsten Schritt den schmächtigen Körper verlassen, so groß und überdimensioniert sind seine Gesten. Weit aufgesperrte Stummfilmaugen, wüst in die Luft gerissene Arme und wilde Sprünge bis in den aufgeklappten schwarzen Flügel hinein - all das ist zwingend nötig, wenn Tim Fischer singt. Mit unbändiger Energie setzt er auf atemberaubende Brüche: harmloses Trällern und verruchtes Raunzen, dann ein bloßer Hauch der samtenen Stimme und wieder ordinärstes Geplärre. Und wenn er zum Abschluß die „Capri-Fischer“, der Deutschen liebsten Urlaubskitsch, zum Besten gibt, hat es das norddeutsche Publikum bereits von den Stühlen gerissen, und die Vase mit den Moosröschen droht vom Tisch zu fallen. ,,Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt...“, dann tut sie das bei Tim Fischer mit einem ausspritzenden „Platsch!“, den superschmalzigen Bella-bella-Refrain überläßt er eh seinen Pianisten Peter Dörschel oder gar dem Saal. Dort herrscht mittlerweile solch eingeschworene Fanstimmung, daß es bis zu den geschwenkten Feuerzeugen nur noch eine Haaresbreite ist. Tim Fischer goes Popstar! Was würden da wohl die Eltern sagen? CDs und Plakate am Ausgang finden jedenfalls reißenden Absatz.

Susanne Raubold

Nächste Vorstellungen: 14. bis 23.10., tägl. außer Montag; Junges Theater, Friesenszr. 16-18