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CDU bei 2,3 Prozent

Wenn alle Wähler Jazzfans wären, käme es zu erdrutschartigen Verhältnissen in der Parteienlandschaft: Absolute Mehrheit für die Grünen, SPD weiter in der Opposition. Allgemeine sexuelle Erregung steigt um 20 Prozent!  ■ Von Christian Broecking

Wissen Sie immer noch nicht so recht, was Sie am Sonntag ankreuzen sollen? Fehlt noch Ansprache, Orientierung, Entscheidungshilfe? What's left? What's right usw.? Eine empirische Studie hält jetzt eine ungemein ordnungstiftende Antwort bereit: Der Sound der Linken heißt Jazz.

Dies hatten die Publikumsforscher Rainer Dollase, Michael Rüsenberg und Hans J. Stollenwerk zwar bereits bei einer 1976 durchgeführten Jazzpublikumsuntersuchung herausbekommen, aber Demoskopie braucht ja fortlaufende Empirie. Und so wurde das Ergebnis mehr als bestätigt, als Fritz Schmücker 14 Jahre später an vergleichbaren Orten noch einmal nachforschte.

Eigentlich erstaunlich, wo doch so viel seither in Bewegung geraten ist. Noch erstaunlicher, was Schmückers Studie, unter dem Titel „Das Jazzkonzertpublikum. Das Profil einer kulturellen Minderheit im Zeitvergleich“ vor kurzem im Lit-Verlag veröffentlicht, alles zu Tage förderte – oder auch nicht: Aus der DDR kam man 1990 eigentlich (noch) nicht, und als erwerbslos mochte sich auch keiner so recht outen; dafür die meisten aber als hochschulgebildet, als Student oder Angestellter, einige auch als Facharbeiter, Händler und Kaufleute. Und als älter geworden: um sechs Jahre genau, auf durchschnittlich 29 Jahre. Dem Empiriker sagen solche Zeichen, daß der Jazz zur Zeit der Wende gerade seine Jugend verlor.

Doch was heißt das alles für das Parteienspektrum – für das, was uns am Sonntag erwarten würde, bestünde die sogenannte „wahlber. Bev.“ aus Jazzern und hielte der Linkstrend an? „Die zur Wahl stehenden Parteien DKP und ,Republikaner‘ sind bedeutungslos“, interpretiert Schmücker nüchtern den Umstand, daß die Anzahl der DKP-Fans von 105 auf neun geschrumpft ist und sich ganze zwei „Republikaner“ bekannten, aber, und jetzt kommt's: „Bildete das Jazzpublikum das Wahlvolk, so sähen die Verhältnisse im Bundestag und in der Parteienlandschaft der BRD wie folgt aus: Die Parteien der Regierung Kohl, CDU und FDP, scheitern jeweils deutlich an der Fünfprozentklausel (CDU 2,3 Prozent, FDP 2,8 Prozent). Im Bundestag sind nur noch zwei statt bisher vier Parteien vertreten: Die SPD drückt mit 27,4 Prozent weiterhin die Oppositionsbank. Die Grünen, so sie wollen, tragen die alleinige Regierungsverantwortung mit einem prozentualen Stimmenanteil, der besten CSU-Ergebnissen in Bayern nahekommt: mit 60,1 Prozent.“ Ein anhaltender Linkstrend also bei gleichzeitiger untergründiger Wählerwanderung. In der 76er Erhebung gab es noch keine Grünen, die SPD hatte damals noch 62,5 Prozent der Jazzstimmen erhalten. Die PDS war zum Zeitpunkt der 90er Erhebung noch ohne Bedeutung.

Wesentlich schwieriger, Kontinuität und Wandel der Stars vor dem Hintergrund des Linksverständnisses zu interpretieren. Von den Favoriten der 76er Umfrage konnten sich Miles Davis, Keith Jarrett, Jan Garbarek und Chick Corea, Charlie Parker und John Coltrane behaupten, erstmals wurden mit Maria Joao/Aki Takase und Barbara Thompson auch Musikerinnen genannt. Daß John Zorn in der Gunst der 90er Genossen den Platz von Klaus Doldinger einnehmen würde, das hatte Schmücker schon geahnt. Aber daß ausgerechnet der Miles Davis der Time-after-Time- und-vor-DooBop-Ära an gleich allen vier Erhebungsorten konkurrenzlos zum Jazzer der Jetztzeit ernannt wurde, das verblüffte dann doch ein wenig. Was heißt das hinsichtlich des Kanzlers?

Immerhin, die sexuelle Erregung durch Jazz nahm von 1976 bis 1990 um fast sieben Prozent zu – knapp 20 Prozent kreuzten an. Die meisten der Befragten gaben allerdings zu, sich mit Jazz zu „entspannen“ oder „abzulenken“, die Hälfte bezeichnete Jazz als „wesentlichen Teil ihres Lebens“. Ebensoviele der Mitpuzzelnden assoziierten mit Jazz ein kritisches Image, ein Viertel gab sogar an, daß Jazz sie „zu gesellschaftskritischer Haltung ermutige“.

1990 war der Jazz also insgesamt noch auf dem richtigen Weg, die meisten Anhänger waren bereit, auf Spießbürger, Angeber, Reaktionäre und Opportunisten zu scheißen und ja nicht als Versager oder Durchschnittstyp auffällig zu werden. Als geschlechtsübergreifender Spitzenreiter in der Sparte „andere kulturelle Interessen“ machte moderne Malerei das Rennen, bei den Frauen gefolgt von modernem Theater und klassischer Literatur, bei den Männern von Rock und Neuer Musik. Einsame Loser gegenüber der 76er Umfrage waren Folk- und Politsongs sowie „Problemfilme“.

Aber wird hier nicht ganz schön ausgegrenzt? Verrät sich in solchen Angaben nicht unfreiwillig ein neoliberales Spießertum? Um Genaueres zu erfahren über die kulturelle Identität jenes teilnehmenden Viertels, das für ein Verbot von „schlechter Musik“ den Stift bewegte und Schlager, Volksmusik, Disco, „Fascho“, Metal und HipHop ankreuzte, bedürfte es weiterer Forschungsarbeit. Selbiges gilt für das Andauern der Faktoren Nervosität und Alkohol. Schmücker beansprucht ja nicht, die Welt neu entdeckt zu haben. Empirisch Forschende haben sich in interpretativer Zurückhaltung zu üben, so will es die Geschäftsordnung. Sie stellen ihr mühsom erhobenes Material bereit und geben es zum Recycling frei.

Zum Ausklang der Studie gibt es aber doch ein kleines Plädoyer – und wirkt es nicht wie eine geheime Werbung für Rot-Grün? Der Jazz brauche Frauen, heißt es, Nachwuchs und auch Menschen ohne Abitur, wenn er kreativ bleiben und der Gefahr entkommen will, in einem Elfenbeinturm vor sich hin zu altern. Rasierwasser, Unterhosen und Autos tragen bereits seinen Namen.

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