Toll der Wind

■ Wolfgang Koeppen schickt eine Ansichtskarte aus Venedig

Wenn ein Autor, dessen Nichtschreiben schon vor 35 Jahren zum „Fall“ gemacht wurde, ein Buch veröffentlicht, ist das natürlich ein Ereignis. Auch wenn der Text schon vor 14 Jahren entstand und damals als Grundlage für einen Film diente. Und auch wenn er es selbst nur eine „Ansichtskarte“ nennt, die er absandte, weil „der Schriftsteller essen mußte und eine Wohnung brauchte“.

In den fünfziger Jahren hatte Koeppen mit „Tauben im Gras“ „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“ drei der wichtigsten gesellschaftskritischen Romane Nachkriegsdeutschlands geschrieben, dann schrieb er bekanntlich nichts mehr. Auch seine Autobiographie hat der inzwischen greise Autor noch immer nicht verfaßt, dafür ein Reisebuch, diesmal aus Venedig. Es besteht aus 23 Ansichten, die in der Tat alle je auf eine Postkarte passen würden. Oft sind es persönliche Notizen, ein Bild von Venedig entsteht ganz nebenbei.

Es ist das Buch eines alten Mannes, der nach langer Zeit wieder an einen geliebten Ort fährt und sich an jeder Ecke erinnert. An Frauen, die er traf, an Plätze, an flüchtige Augenblicke, die ihm aus irgendwelchen Gründen im Gedächtnis geblieben sind. Er findet Plätze wieder, die ihn einmal zu einem Roman inspirierten, er erinnert sich an seine erste Zeit in Venedig zu Beginn des „Dritten Reiches“, ohne Geld und mit ungewisser Zukunft. Zitate aus Büchern fallen ihm ein, meist Goethes „Italienische Reise“, und er ist gerührt, zu stehen, wo Goethe stand, „wo Goethe bewunderte, dieses Wasser zu sehen, der Bilder, der Bücher, der Jugend zu gedenken, dem Traum von Venedig unter einem Schimmer schöner Ewigkeit“.

Venedig – Vergänglichkeit, Melancholie und Tod. Koeppen könnte hier kitschig werden. Daß er es nicht wird, liegt vor allem an seiner einfachen und klaren Sprache, mit der er oft ganz abseitige, scheinbar belanglose Eindrücke und Erlebnisse beschreibt. Oft entsteht da der Eindruck, als ob ein Kind ganz begeistert und spontan von Eindrücken berichtet, ohne von einem möglichen Leser zu wissen, von Erlebnis zu Erlebnis hüpft: „Und manchmal kam uns ein Hund entgegen, und erst mochte er uns nicht und bellte sehr, und dann waren wir sehr mit ihm befreundet. Seinen Namen habe ich vergessen.“ Fast auf jeder Seite ein „und es war sehr schön“ oder „und es gefällt mir sehr“. – „Hier dieses Blumengeschäft mit diesen roten Blumen dahinten, ist doch schön.“ Oder er stellt sich auf dem Weg zur Toteninsel („Toll der Wind“) vor, wie ein Toter hier mit seinem Sarg aus dem Boot springt, weil ihm „die Sache“ einfach nicht paßt. Oder er erzählt kurz und ohne offensichtlichen Zusammenhang einen Witz: „Man kommt zum Irrenhaus, klopft an, der Wärter brummt durch die Tür: ,Was wollen Sie?‘ Und ich sage: ,Ich bin verrückt.‘ Und dann sagt er: ,Sie sind wohl verrückt!‘ Und schließt nicht auf.“

Zwei ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen stehen sich auf den nur 60 Seiten des Buches gegenüber: die melancholische, die in schweren Worten die Vergänglichkeit betrauert, die alles schon kennt und nichts mehr erwartet – Venedig langsam versinken sieht („Venedig vermählt sich dem Schatten, verschwindet, wird ganz und gar Geist“) und die Seite der Gegenwart, der schalkhaften Freude am Fabulieren, Beobachten und Berichten. Die zwei Betrachtungsweisen verbinden sich nicht und lassen sich eigentlich auch nicht verbinden, und dies Nebeneinander macht einen großen Reiz des Buches aus.

„Manchmal glaube ich, mit dem Konzipieren und mit dem Anfang eines Werkes alles gesagt zu haben.“ Wolfgang Koeppen hat in diesem Buch 23 Romananfänge geschrieben, 23 Bilder konzipiert und am Ende alles gesagt. „Ja ich liebe diese Stadt. Ihr Winter kommt. Mein Winter ist da.“ Volker Weidermann

Wolfgang Koeppen: „Ich bin gern in Venedig warum“. Suhrkamp Verlag, 60 S., geb., 28 DM.