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Die Berliner S-Bahn als Bosnien en miniature

Staatsschutz und Sozialarbeiter sind ratlos angesichts der neuen Attentate. Die Täter seien schwer greifbare Jugendgruppen, die sich spontan zusammentun und nur bedingt rechtsextrem zu nennen sind. Ihre Gewalt werde zunehmend zielloser.

Ende letzter Woche atmete die Öffentlichkeit auf: Die Jugendlichen, die vor einem Monat einen Ghanaer aus der Berliner S-Bahn gestoßen haben sollen, waren festgenommen. Als Motiv gab einer von ihnen an, der „Anblick des Afrikaners“ habe ausgereicht. Aber sie waren keine Einzeltäter. Am letzten Wochenende ging der „molekulare Bürgerkrieg“ (Hans Magnus Enzensberger) weiter. In Magdeburg und Berlin griffen Jugendgangs Fahrgäste an, ein 22jähriger mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Am Montag stießen Skinheads eine Frau aus der Potsdamer Straßenbahn. Gesucht werden drei rechtsradikale Jugendliche. Gestern gingen in diesem Fall „erste Hinweise“ bei der Potsdamer Polizei ein. Wie bei dem S-Bahn-Attentat hatten sich zunächst keine Zeugen gemeldet. Der brandenburgische Innenminister Ziel mußte erst 20.000 Mark Belohnung ausloben. Die 34jährige Frau, die schwer verletzt in einer Klinik liegt, war von drei Skinheads angegriffen und auf die Straße gestoßen worden, nachdem sie versucht hatte, eine ältere Frau vor den Gewalttätern zu schützen. Die Jugendlichen hatten sie mit einem Messer bedroht, um Geld zu erpressen.

Jeder U-Bahn-Wagen könne „zum Bosnien en miniature werden“, philosophierte bereits im vergangenen Jahr der Essayist Hans Magnus Enzensberger in seinen „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. „Es genügt, daß einer einen anderen Fußballklub bevorzugt, daß sein Gemüseladen bessergeht als der nebenan, daß er anders angezogen ist, daß er einen Rollstuhl braucht oder sie ein Kopftuch trägt. Jeder Unterschied wird zum lebensgefährlichen Risiko.“ Wer sind die Täter?

Polizei, Staatsschützer und Sozialarbeiter stehen angesichts der neuen Gewaltwelle vor einem Rätsel. Ein „durchgängiger Maßstab“ sei bei den jugendlichen Gewalttätern bisher nicht erkennbar, erklärt Gerd Schnittcher, Staatsanwalt in Neuruppin und mit der Vernehmung der vier befaßt, die den Ghanaer aus der S-Bahn stießen. Vor dem brutalen Überfall waren sie der Polizei als S-Bahn- Surfer aufgefallen. Nichts deute darauf hin, daß es sich um Mitglieder bisher bekannter rechtsradikaler Gruppen handle.

Die Jugendlichen, die nachts in den Bahnen die Passagiere tyrannisierten, seien weder Mitglieder in sich geschlossener Gruppen noch eindeutig rechtsextrem veranlagt. Deutlich werde dafür eine zunehmende Beliebigkeit der Opfer: „Die Täter machen keinen Unterschied mehr zwischen Ausländern und Deutschen.“ Es gibt keine Bekennerbriefe, keine Rechtfertigungen. „Den heutigen Tätern scheint das entbehrlich. Was an ihnen auffällt, ist das Fehlen aller Überzeugungen“, resümierte Hans Magnus Enzensberger über den „Autismus der Kombattanten“.

Bei den jüngsten Angriffen in S- und U-Bahnen habe man es nach ersten Erkenntnissen mit „sehr gewalttätigen“ Jugendlichen zu tun, die „in manchen Fällen Gewalttaten ideologisch untersetzen oder mit Parolen legitimieren“, erfuhr die taz von einem Mitarbeiter aus Sicherheitskreisen, der nicht namentlich genannt werden will. Bisher weise nichts auf eine Kenntnis rechtsextremistischer Programme hin, sondern alles auf das Motto „Gewalt ist gut, weil es dem Gesetz der Natur entspricht“.

Die Gewalt, die sich während der Rostocker Pogrome und der Nachfolgetaten überwiegend gegen Asylbewerberheime richtete, habe ihr Ziel verloren. „Seitdem Asylsuchende nicht mehr im Vordergrund der öffentlichen Debatte stehen, werden Opfer beliebig gesucht und gefunden.“ Ausländer als Opfer entsprächen zwar immer noch am ehesten dem Klischee eines Feindbildes und der Stimmung im Land. Wenn Gewaltgeneigtheit keine (Aus-)Wahl habe, werde aber auf jeden losgegangen. Viel spreche dafür, daß von dem Mordanschlag auf den Ghanaer eine Signalwirkung ausgegangen sei.

Statt „instrumenteller“ habe man es bei der Gewalt in S- und U-Bahnen mit „expressiver“ Gewalt zu tun, bestätigt auch der Bielefelder Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer. Während der Rostocker Anschläge sei die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen über politische Parolen kanalisiert worden – jetzt trete sie quasi „entsichert“, nicht eingebunden in Gruppen und Ideologien, auf. „Dabei geht es nicht um die Durchsetzung von Zielen, sondern um die eigene Selbstbespiegelung, um das Gefühl von Gewalt. Die Opfer sind dabei beliebig.“ Gerade diese Beliebigkeit mache aber die Szene so gefährlich: „Die Chancen, Leute zu packen, die nicht auf markierte Gruppen zielen, stehen sehr schlecht.“ Auch die Treffpunkte und Aktionszentren der Jugendlichen wechseln ständig. Nach Schwedt und Eberswalde ist in den vergangenen Wochen der Landkreis Oranienburg in Brandenburg ins Zentrum der Gewalttätigkeiten gerückt. Berliner und Brandenburger Polizei durchforsten jetzt gemeinsam die S-Bahn-Surfer- und die rechtsextreme Szene beider Bundesländer. Denn alles weise darauf hin, daß Berliner und Brandenburger Jugendliche zusammen agieren. Als Treffpunkte der „lockeren Zusammenschlüsse“ von meist acht bis zwölf Leuten, die oft nur für eine Nacht existieren, dienen Jugendclubs, Discos, U-Bahnhöfe. Dort trifft man sich und zieht in das Nachtleben der Berliner S-Bahnen. Manche Linien werden bereits als „Party-Lines“ gehandelt – mit lebensgefährlichen Konsequenzen für die Passagiere.

Angesichts der Unstrukturiertheit der Szene sind auch die Sozialarbeiter machtlos. Die Gruppen seien offensichtlich „aus dem Blick geraten“, erklärte Herbert Scherer vom „Verband für sozialkulturelle Arbeit“, der unter anderem mit rechtsradikalen Jugendlichen in Ost-Berlin arbeitet, der taz. „Ich habe nicht den Eindruck, daß es sich um die Speerspitze einer Bewegung handelt.“ Die ehemals gut organisierte und mit rechtsextremer Ideologie untermauerte Skinhead-Szene in Marzahn und Lichtenberg habe sich seiner Kenntnis nach in verschiedenste Richtungen verlaufen. „Bisher hat nichts darauf hingewiesen, daß es ernsthaften Nachwuchs gibt.“ Auch die Streetworker von „Gangway e.V.“, die in acht Ostberliner Bezirken mit Rechtsradikalen arbeiten, sind ratlos: Erst vorgestern abend erhielten sie den ersten Hinweis aus der Szene auf mögliche Täter. Neben der Polizei durchforsten auch sie jetzt die einschlägigen Szenetreffs nach Leuten, die dabei waren oder etwas wissen. Denn zumindest die Sozialarbeiter sind optimistisch, daß es möglich ist, die brutalen Jugendlichen zu beeinflussen: „Solange auf die relativ losen Gruppen kein politischer Druck von rechts ausgeübt wird, ist es oft auch möglich, etwas zu verändern. Außerdem ist es kaum denkbar, daß man Gruppen von zehn oder zwölf Leuten nicht finden kann“, erklärt Herbert Scherer. Jeannette Goddar

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