Wand und Boden
: Ein Fall für Freud

■ Kunst in Berlin jetzt: Fotos aus Minsk, Fallwallfall, Matthias Hermann

Das Familienalbum spielt die herausragende Rolle in der „Fotografie aus Minsk“, die den Weg in die ifa-Galerie wert ist. Da fast alle Künstler andere Berufe hatten, bevor sie fotografierten, macht es Sinn, daß sie ihre biographisch erste Begegnung mit der Fotografie konzeptionell ausdeuten. Die Minsker erzählen seriell eine aktuelle Idee mit alten Fotos. So arbeitet Igor Savchenko ein typisches Moment der Gruppenaufnahme, „Die Hand auf ihrer Schulter“, in reproduzierten Fotofragmenten zur gleichnamigen Serie um. Galina Moskalevs „Erinnerungen an die Kindheit“ transponieren in der dreifachen Überblendung eines Motivs dessen kostbaren, weil einmaligen Moment in komische Sentimentalität, wie sie hier angemessen ist: Etwa wenn Offiziere in voller Uniform am Barren turnen. Auch Sergey Kozhemyakin nimmt sich des „Kinderalbums“ an: Die Knirpse sind in Phantasieuniformen gesteckt oder in prächtige folkloristische Kostüme. So hatte sie der bestellte Fotograf aufgenommen, und so zeigt sie Kozhemyakin noch einmal. Vladimir Shakhlevich bleibt in der Gegenwart und reportiert einen „Fröhlichen Sonntag“. In der Kleinbürgerwohnung sind Brot und Wodka aufgetischt, die Herrenrunde trinkt, und irgendwann werden Pistolen gezogen. Auch Uladzimir Parfianoks Arbeiten haben bei aller Inszenierung einen reportierenden Aspekt. Der Porträtzyklus „Unerwünschte Personen“ formiert sich zum Gruppenbild seiner eigenen Generation der Dreißigjährigen.

Bis 13. 10., Di–Fr: 11 bis 13.30 und 14 bis 18, Sa/So: 11–13.30/ 14–17 Uhr, Friedrichstraße 103, Mitte

„Fallwallfall“ im Werkbund- Archiv versammelt 21 Fotografen, drei Videokünstler und zeigt auch skulpturale Aktionen von weiteren sieben Künstlern: ein Mammutunternehmen vor dem Hintergrund des Mauerfalls. Es geht nicht darum, die politische Geschichte chronologisch per Fotografie zu erzählen, was viele Besucher offensichtlich erwarten. Vielmehr geht es um die Geschichte der Fotografien, die aus dem Anlaß der Mauer heraus entstanden. Erster Befund: Die Mauer erweist sich als harter Fakt. Nicht nur die Presse-, sondern auch die Kunstfotografie – um die Aufnahmehaltung auf zwei einfache Pole zu reduzieren – ist vom dokumentarischen Aspekt dominiert. Die zwei farbigen, mehrfach belichteten Großformate von Angelika von Stocki mit ihrem roten Abendhimmel aus Plastikkettengliedern über der Glienicker Brücke sind malerische Erfindungen, und doch drängen sich die Realitätsfragmente um so stärker in den Vordergrund. Zweiter Befund: Je strikter dokumentarisch die Fotos sind, desto unsichtbarer wird die Mauer. Pascal Valu stellt identische Aufnahmestandorte etwa von 1987 und 1994 gegenüber, also mit und ohne Mauer. Erstaunlicherweise braucht man eine ganze Weile, bis man dies erkennt – also kein Schock der radikalen Veränderung. Die Veränderung ist so radikal, daß man die Identität der Orte zunächst gar nicht bemerkt. Dritter Befund: Der Abbruch der Mauer ging so rasend schnell, daß selbst Fotografie und Film überfordert waren. Als wohl einziger hat es Franz John geschafft, die Mauer in ihrer gesamten Länge auf Video zu bannen. Vierter Befund: Es gibt durchaus Fotografien, die die zentralen Orte Reichstag und Potsdamer Platz, Maueröffnung und Ostberliner in Westberlin zeigen, ohne an das Freudentaumel-Klischee anzuknüpfen, so von Uli v.d. Heidt, Hans Pieler oder Ute & Bernd Eickemeyer. Fast völlig entfärbt hat Arwed Messmer seine Farbaufnahmen des Potsdamer Platzes, denen alte Beschreibungen zugeordnet sind – eine Aufforderung, das Unsichtbare zu sehen. Farbenfroh dagegen Viola Vassilieffs und Christian Härtels Bilder aus den leeren Kasernen der russischen Armee. Um diese Dimension ist die sehenswerte Ausstellung noch ergänzt. Susanna Müller dokumentiert einen wesentlichen Aspekt der historischen Situation: wie der Normalbürger, der Knipser, auf sie reagiert. Eine Touristin im schwarzen Cape steht wie Batwoman auf einem Panzer, während der Mann das Erinnerungsfoto schießt.

Bis 9. 11., Di–So: 10–20 Uhr, Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße 110, Mitte

Was auf den Fotografien Matthias Hermanns zu erkennen ist, steht außer Frage. Aber ausgerechnet Männer sollen angesichts des unzweideutigen Objekts mit Blindheit geschlagen sein, erzählt der Galerist. Ein Fall für Freud, denn das dargestellte Objekt ist das erigierte männliche Geschlecht. Stilistisch sind es Modefotografien, die in der Galerie Andreas Weiss hängen. Wie ein Model steht das Glied vor dem weißen Hintergrund, perfekt ausgeleuchtet, damit auch nicht das kleinste Moment seiner rosafarbenen Schönheit verlorengehe. Verführerischer stellt auch Steven Meisel Naomi Campbell nicht ins Scheinwerferlicht. Andere Bilder zeigen es zitronengelb gefiltert, tiefblau zur abstrakten Skulptur reduziert oder, besonders schön, in natürlichem Hautton vor einem mauve-farbenen Hintergrund. Pornografische Momente sind mit im Spiel, nicht erst wenn Ejakulat zu sehen ist. In der vorbildlichen klassischen Ikonographie symbolisierte der nackte männliche Körper die idealische und heroische Natur der Darstellung, dabei war das Geschlecht in kleinstmöglicher Form zu zeigen. Das erigierte Glied galt als kraß komisch und war der Seite der keineswegs verpönten, aber eben nicht kunst-, sondern nur lustvollen Erregung zugeordnet. Es war kynisch-zynisches Politikum. Ob dieser Aspekt noch wirksam ist in Hermanns Penis-Ikonen, ist fraglich. Hier hat der Künstler aber ein Anliegen, wie der Abdruck „The AIDS Crisis“ im Katalog zeigt.

Bis 22. 10., Di–Fr: 14–19, Sa: 11–15 Uhr, Nollendorfstraße 11–12, Schöneberg Brigitte Werneburg