Kehrseite der Einigungseuphorie

■ Der „Simplicissimus“ soll wiederbelebt werden, als Vorbote sind Zeichnungen von Georg Chaimowicz erschienen

Braucht Deutschland eine neue Satirezeitschrift? Die Frage ist nicht nur mit Blick auf den Zeitschriftenmarkt sinnvoll. Auch Kabarettisten klagen ja darüber, daß ihre Programme der Realität immer mehr hinterherhinken. Der Wiener Verleger Burkhart List wagt es dennoch: Mit einer Startauflage von circa 100.000 Exemplaren will er den traditionsreichen Simplicissimus zu neuem Leben erwecken. Spätestens im Herbst 1995 soll das Revival starten, zum 99. Geburtstag des Satireblatts, wie List geschichtsbewußt bemerkt.

Zunächst soll es zwei verschiedene Ausgaben mit monatlich je 36 Seiten geben. „Eine für Deutschland und eine für Österreich, weil es ein unterschiedliches Umfeld in beiden Ländern für Humor und Satire gibt.“ Die Deutschland-Redaktion soll von der Berliner Dependance der Hargitay-Verlagsholding unter Leitung von Frank B. Schütze eingerichtet und betreut werden. „Trotz aller Schwierigkeiten scheint sich hier in Berlin noch etwas zu bewegen. In Westdeutschland, das konnten wir auf unserer Vorstellungsreise spüren, herrscht eine Agonie“, sagt List.

Die Überlebenschancen eines Satire-Mediums in diesem Klima schätzen die Kollegen von der Konkurrenz, von Titanic und Eulenspiegel, unterschiedlich ein. Hans Zippert, der für den Inhalt verantwortliche Redakteur des Westblatts, kann sich nicht vorstellen, daß „ein reines Satireblatt die geringste Chance“ hat. Bei circa 70.000 verkauften Exemplare liege die „magische (Auflagen)Grenze“ für die Titanic.

Eher müsse man, nach Zipperts Worten, „auf den Fun-Sektor gehen ..., den Simplicissimus zwischen Titanic und Mad ansiedeln.“ Auf jeden Fall sei der Zeichner- und Texter-Pool für das Genre nicht unbegrenzt. Und eine Linie wie das Nachrichten, Reports und Satire mischende französische Magazin Le Canard Enchainé erfordere entsprechende Finanzkraft.

Von der programmatischen Ausrichtung abhängig macht auch der Chefredakteur des Eulenspiegel, Jürgen Nowak, den Erfolg eines neuen Simplicissimus. Wenn er an seine alte Ausrichtung der oft polemischen Agitation anknüpfe, sei er auch keine größere Konkurrenz für die „Satire pur“ des Eulenspiegel. Auf etwa 200.000 Leser schätzt Nowak das Leserpotential insgesamt. Bei etwa 140.000 gedruckter Auflage mit einem AbonnentInnenstamm von ungefähr einem Drittel und einer vorwiegend ostdeutschen Marktpräsenz liege sein Blatt. Wie Zippert sieht auch Nowak eine „heute recht zimperliche Stimmung“ gegenüber Satire in Deutschland. Gerade deshalb würde er sich aber auch freuen, wenn noch eine neue Satirezeitung in diesem Land erscheinen würde.

Aufmachen will der neue Simplicissimus wieder unter dem Signet der Bulldogge des Traditionsblatts und mit einer starken Anknüpfung an seine Linie. Als Beiträge seien neben satirischen Zeichnungen, Glossen und Artikeln auch Trend-Reportagen und zeitgemäße Polit- und Kulturstories vorgesehen. Die redaktionelle Ausrichtung soll liberal sein, so liberal, „daß auch Marxisten darin schreiben können“. Ausgeschlossen werde rechtes Gedankengut, weil der neue Simplicissimus „nicht nur ein Zeitungsprojekt, sondern Lebensphilosophie“ gegen Intoleranz, Dummheit und Ausgrenzung werden soll.

Mit einem etwas schrägen Vergleich schildert List das Finanzierungsmodell: „Wie beim alten Simpl, bei dem quasi aus dem Kulturbetrieb Ausgestoßene ihr eigenes Medium gründeten, werde bei der Finanzierung der neue Weg einer Verlustbeteiligung, einer Art österreichischen Abschreibungsmodells, gegangen.“ Wohl eine Anspielung auf den, nach Lists Aussage, beim ersten Versuch 1990 abgesprungenen bundesdeutschen Großverlag, dessen Namen er allerdings nicht nennen will. Damals sei aber auch der Boden für Satire noch nicht reif gewesen, und man habe hausinterne Besetzungsfehler gemacht. Immerhin habe man heute schon „weit mehr als die Hälfte“ des auf 22 Millionen Mark veranschlagten Startkapitals zusammen.

Für die politisch korrekte Linie steht auch der Wiener Zeichner Georg Chaimowicz, die eigentliche Triebfeder der Neuauflage. Der künstlerische Kopf schon des ersten Versuchs reagiert aufgrund seiner Biographie äußerst sensibel auf das Wiedererstarken von Nationalismus und Neonazimus: 1929 als Sohn eines jüdischen Bankiers und Textilfabrikanten in der österreichischen Hauptstadt geboren, überlebte er den Holocaust im kolumbianischen Exil.

Diese Sensibilität spiegelt sich in seinem neuen Buch „Rattendämmerung“, der ersten Veröffentlichung der neuen Simplicissimus-Edition. Die satirischen Zeichnungen, zum Teil vorgesehen für das erste Revival der Zeitung, ahnen bereits 1990 das Zukünftige der neuen Kohlschen Schrebergärtner-, Datschenkolonisten- und Großindustriellenrepublik voraus. Als spottende Zeitkommentare Presseschlagzeilen aus dieser Zeit gegenübergestellt, bündeln sie die Kehrseite der Einigungseuphorie.

Die Germania mit Pickelhaube, aus deren Schoß die Ratten kriechen. Der Alpen-Seppl, der „Ausländer raus“ auf den Hund einbrüllt. Oder ein schnauzbärtiger „Überlassungscatilina“, hinter dem das Volk „für Kohle“ arbeitsam marschiert. Und mittendrin die wiedererwachte Bulldogge. Nach Rostock, Solingen, Mölln und dem Deckert-Urteil hinterlassen sie einen schalen Beigeschmack.

Ein Beigeschmack, den übrigens auch der stolze Preis von DM 95,- für das Buch hat. Der schon stinkende Bodensatz des Froschpyramidengleichnisses mit Kohlquappe, das Chaimowicz anläßlich der Präsentation erzählte, dürfte damit nicht in die Verlegenheit eines Spiegels für sich selbst kommen. Matthias Trendel

„Rattendämmerung“ von Georg Chaimowicz, Simplicissimus- Buch, 1994, 136 Seiten, 95 Mark.