Das Buch kommt bis vor die Haustür

■ Wo der Weg zur Bibliothek zu weit ist, fahren Bücherbusse vor / Fahrbibliotheken wenden sich vor allem an Kinder und alte Leute / Der erste Bücherbus fuhr 1956

Angestrengt späht der Knirps mit der viel zu großen Tasche in die Regale, dann nähert er sich dem Schreibtisch am Ende des Busses: „Haben Sie Bücher mit Edelsteinen zum Abmalen?“ Burghard Kleefeld sucht die Wände ab und zieht zwei Bücher heraus. Der nächste Kinderwunsch ist schon schwerer zu erfüllen. „Gibt es keine Kassetten mit den ,3 Fragezeichen‘ mehr?“ fragt ein Zehnjähriger. Kleefeld durchsucht das Kassettenregal. Nichts zu machen – obwohl die Fahrbibliothek einen Bestand von fast 1.000 Kassetten hat, sind zur Zeit fast alle verliehen. Allein sechs Stück hat die vierjährige Lea beschlagnahmt. Mit Mühe hält sie den Stapel vor der Brust, das Kinn auf die oberste „Urmel“-Kassette gepreßt.

Was nicht vorhanden ist, kann man vorbestellen. Kaum eine Stunde hat die Zehlendorfer „Fahrbibliothek 1“ in der Breisgauer Straße in Schlachtensee geparkt, und schon liegen zwanzig Bestellzettel auf Kleefelds Schreibtisch. Auch äußerst vage Vorbestellungen werden akzeptiert: „Alles von und über Colette“ steht in runder Schulmädchenschrift auf einem Zettel. Die Fahrbibliotheken in Berlin wenden sich vor allem an Kinder und alte Leute, für die der Weg zu den zentralen Bibliotheken zu weit ist. 1956 fuhr in Zehlendorf der erste Bücherbus, in den folgenden Jahren zogen rund fünf weitere Bezirke nach. Wer in Randgebieten wie Kohlhasenbrück, Kladow oder Buckow wohnt, kann sich seitdem einmal pro Woche direkt vor der Haustür mit Lesestoff eindecken. In den flächenmäßig größten Bezirken Zehlendorf und Spandau fahren je zwei Busse, in Steglitz, Tempelhof, Neukölln und Wedding je einer. Ostberlin hat keine Fahrbibliothek mehr, seit der einzige Bücherbus betriebsunfähig ist.

„Es ist ganz wichtig, daß wir direkt zu den Lesern kommen. Die Leute leihen nicht nur aus, sondern erzählen auch ein bißchen was“, sagt Kleefeld, der seit 22 Jahren die Fahrbibliothek Zehlendorf leitet. „Und hier ist die Schwellenangst auch nicht so hoch.“ Tatsächlich ist die Stimmung weitaus lockerer als in einer normalen Bücherei. Die meisten Kunden kennen Kleefeld und seinen Kollegen, der auch schon seit 25 Jahren dabei ist. In dem schmalen Gang haben sich zwei Kinder auf Schemeln häuslich eingerichtet und sich in Comicbände vertieft. „Wir sind aus der Gegend schon weggezogen, aber ich komme trotzdem noch hierher“, sagt der 13jährige Julian. Auch wenn er die meisten Comics schon gelesen hat: „Ich finde immer noch neue.“

Etwa 35.600 Medien – Bücher, Zeitschriften, Kassetten und Schallplatten – gehören zum Bestand der Fahrbibliothek Zehlendorf. In einen Bus passen etwa 4.500 Bücher. Der Bestand wird häufig ausgewechselt – schon weil die Lücken, die die Entleiher reißen, rasch wieder aufgefüllt werden müssen. 1993 wurden fast hundert Medien pro Stunde verliehen, das macht pro Jahr und Bus etwa 80.000 Entleihungen. „Wirtschaftlicher kann eine Bibliothek nicht arbeiten“, betont Kleefeld. Denn sieben Mitarbeiter genügen, um 18 Haltestellen – darunter sechs Schulen – zu versorgen. Kostspielig ist nur die Anschaffung eines Busses. Die Spezialanfertigungen, die 12 Meter lang und nur 2,50 Meter schmal sind, kosten eine halbe Million Mark. Innen ziehen sich gelbe Metallregale die Wände entlang. Die Fächer sind schräg, damit die Bücher in den Kurven nicht aus den Regalen fliegen.

Kinderliteratur wird besonders oft entliehen, aber auch für Erwachsene ist die Auswahl relativ groß. „Die Pilcher wird gern gelesen und Utta Danella. Im Moment ist auch Canetti sehr gefragt“, erzählt Burghard Kleefeld. Klassische Literatur ist rar im Bücherbus. Statt dessen gibt es eine Reihe von Bestseller-Romanen und viele Sachbücher: Biographien und populär-historische Werke, Hobby- und Reiseliteratur. Auf einem Regal sind Zeitschriften vom Briefmarkenspiegel bis Bild der Wissenschaft aufgereiht. Im Gegensatz zu den zentralen Büchereien können hier Zeitschriften auch ausgeliehen werden, wenn sie noch aktuell sind. Jede Woche besorgt Peter Wallner hier einen Stapel Zeitschriften für seine Eltern, die alt sind und den Weg zum Bücherbus nicht mehr schaffen. „Diese Bücherei hält direkt vor unserer Tür“, sagt er. „Ich finde den Bus sehr nützlich.“

„Absolut notwendig für so einen großen Bezirk“, ergänzt Kleefeld, bevor der Bus nach drei Stunden Parkzeit wieder abfährt. „Es heißt manchmal, hier sind alle reich, die können doch mit dem Auto zur Biliothek fahren. Aber das ist Unsinn.“ Miriam Hoffmeyer