■ Exklusiv-Interview mit Ulrich Wickert zum mißratenen Bundestagswahlkampf
: „Da mache ich beide Augen zu und zwei Kreuze!“

Neue Werte braucht das Land. Neue Politikerköpfe sowieso. Und überhaupt war das Superwahljahr zum Fürchten. Das meint ein mutiger Promi des gediegenen Politfernsehens, der erstmals ernste Schwierigkeiten damit hatte, sich bei der Briefwahl zum Bundestag kniggegemäß zusammenzureißen. Ulrich Wickert, das Gesicht der ARD, droht Bonn im taz-exklusiv-Interview mit dem Einstieg in die Politik: „Wenn ich der Kanzlerkandidat gewesen wäre ...“

taz: Herr Wickert, machen die Parteien noch Politik für die Bürger oder üben sie sich in einem Schaukampf mit austauschbaren Sparringspartnern?

Ulrich Wickert: Sie machen zu wenig Politik. Man würde sich ja wünschen, daß es politische Alternativen in den Angeboten gäbe. Schaut man sich nur die großen Parteien an, dann wird ziemlich deutlich: Es werden zwar unterschiedliche Dinge angeboten, aber wirklich verschiedene Konzepte, geschweige denn Grundsatzüberlegungen, fehlen eigentlich. Dieses Gefühl haben viele, weil jeder das spürt, auch wenn er von politischen Dingen keine Ahnung hat. Daher können sich die Bonner Politiker über manches Wählerverhalten auch nicht mehr wundern. Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der PDS wird klar, daß hier Schaukämpfe geführt werden, um von fehlenden Trennlinien bei den Volksparteien abzulenken.

Scharping posiert unter „Kanzlerwechsel“ und präsentiert sich in der wohl bitternötigen Troika mit Schröder und Lafontaine als „stark“. Hannelore Rönsch ist für die Unionschristen irgendwo „mitten drin“ in der Bedeutungslosigkeit. CDU-Kanzler Kohl outet sich mit einer „Politik ohne Bart“, und die FDP geht mit dem verzweifelten Slogan „Diesmal geht's um alles“ auf Mitleidstour. Ziehen nur noch leere Phrasen die Wähler an?

Das Merkwürdigste an dem mißratenen Bundestagswahlkampf ist ohne Zweifel die FDP. Sie sagt auf den Plakaten, nun ginge es um alles, dabei lautet die Redewendung richtig: „Jetzt geht's aufs Ganze“. Den Satz können sie 1994 nicht benutzen, weil sie den schon einmal in Gebrauch hatten. Durchaus ein grünes Thema bei der Kinkel-Partei: Möllemannches Spruchrecycling! Die Wahlwerbung 94 ist natürlich ganz gräßlich ausgefallen. Aber das ist halt, wie Werbung immer ist: Da wird eher auf die Emotionen und auf Gefühle hingewiesen. Es geht dabei überhaupt nicht um Inhalte. Sprüche und schräge Ideen zählen mehr als Programme und Argumente.

Aber kann man denn eine Partei wie ein Waschmittel anpreisen?

Nein. Das ist eine üble Entwicklung, die der Wähler sofort mit Unwillen quittiert: Von den SPD- Nackedeis auf Berliner Plakaten (Text: „Eine ehrliche Haut“), hängenden roten Strümpfen der CDU (Text: „Auf in die Zukunft ...“) bis zum männlichen Marilyn-Monroe- Verschnitt der FDP war doch alles „Zündende“ vertreten. Solche peinlichen Geschichten gehen an den Bedürfnissen und Interessen der Menschen vorbei. Der Bürger fühlt sich doch zu Recht verschaukelt und reagiert entsprechend: Weder die Socken zogen im Osten gegen die PDS, noch hat es irgendeiner dieser Kandidaten in die Parlamente geschafft. Das war Wahlkampf der bescheuertsten Sorte. Sie sagen: wie Waschmittel. Vor einiger Zeit habe ich einen der führenden französischen Werbeleute zum Thema Werbung und Werbung für Politik interviewt. Auf die Frage: „Was ist der Unterschied, wenn Sie Werbung für Seife und Werbung für einen Politiker machen?“ hat er geantwortet: „Seife spricht nicht.“ Daran denke ich immer, wenn ich auf den Straßen die Wahlplakate oder zu Hause die Fernsehspots sehe.

Eine Infas-Umfrage der ARD belegt, daß 63 Prozent der Deutschen wegen des Wahlkampfes „eher mißgestimmt“ sind. Macht es denn keiner richtig?

Doch, es gibt schon ein paar Politiker mit seriöser Wahlwerbung. Ein Beispiel ist Norbert Gansel von der SPD. Er klebt Plakate nur mit Texten, nur mit Information. Der norddeutsche Bundestagsabgeordnete versucht einen von der Methode der Bundes-SPD abgekoppelten, argumentativen Wahlkampf.

Meine grundsätzliche Kritik an dem derzeitigen politischen System ist, daß im Vordergrund der Parteiaktivitäten – das gilt insbesondere für die sogenannten Volksparteien – weniger die Verwirklichung einer anderen Politik – andere Werte mithin – steht, sondern die Erhaltung beziehungsweise das nackte Erringen von Macht. Wir brauchen eine erneute Diskussion unserer Werte, eine zweite Aufklärung. So kann es nicht weitergehen.

Ist die politische Kaste von heute zur Reform überhaupt fähig?

Solange Politik als Karrieretreppchen verstanden wird und Parteien Politiker als Anpasser erziehen, sicher nicht. Ich will Ihnen eines sagen: Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht so dumm, wie wir immer glauben. Das Aufkommen der Grünen war ein Beleg dafür, daß die Leute es nicht mehr so haben wollten, wie es damals war. Vor den Grünen war die Situation sehr viel verkrusteter als in unseren Tagen. Auch in der DDR hat das Volk nicht mehr mitgemacht und den Wandel herbeigezwungen. Wenn das Volk nicht mehr mitmacht – wir befinden uns an solch einem Punkt, Stichwort Wahlmüdigkeit und Parteienverdrossenheit –, dann muß sich etwas verändern. Es brodelt an allen Ecken und Enden. Ich kann mir vorstellen, daß das Volk sich wieder stark zu Wort meldet in der Bundesrepublik. Damit dies passiert, müssen die Menschen aber ethisch und politisch aufgeklärt werden.

Wenn Sie der Kanzlerkandidat gewesen wären ...

... würde ich als erstes dafür plädieren, daß die staatliche Parteienfinanzierung abgeschafft wird. Parteien müssen sich ihr Überleben beim Bürger allein über Kleinspenden sauer verdienen, nicht umgekehrt. Zudem würde ich mir ein neues Finanz- und Steuersystem ausdenken, das die Steuerschraube auf 30 Prozent senkt und den Großverdienern nicht mehr die Möglichkeit gibt, sich über Abschreibungen quasi ohne eine einzige Steuermark beim Finanzamt durchzumogeln. Der Ehrliche darf nicht länger der Dumme bleiben.

Sie haben den wohl aktuellsten Überblick über das leere Getöse vieler Mandatsträger. Haben Sie persönlich da noch Lust, wählen zu gehen?

Also, Politiker, die bei uns in den „Tagesthemen“ auftreten und nichts als Hülsen von sich geben, unterbreche ich sofort. Notfalls werden die Interviews dann von mir auch radikal abgekürzt. Ja, ich gehe wählen, weil ich Demokrat und Gewissenstäter bin. Meine Stimme habe ich bereits per Briefwahl abgegeben, wenn auch diesmal mit sehr gequälter Begeisterung. Ich habe mir gesagt: Augen zu und zwei Kreuze!

Haben Sie Ihre beiden Stimmen einer einzigen Partei vermacht? Wie ist Ihr Wahlverhalten?

Ich bin nach dem Prinzip des kleineren Übels vorgegangen. Aber es ist wirklich schwierig gewesen. Ich gehöre zu den Leuten, die sehr beußt wählen und die sich zuerst anschauen, wer Kandidat ist. Mein Wahlverhalten ist so, daß ich mir genau überlege, wem ich meine Erststimme gebe. Die Zweitstimme kann dann eine andere sein. Besonders in den Fällen, in denen man klar machen will: Liebe Partei, behandelt diesen Mann nicht so schlecht – er ist nämlich besser als ihr. Eigentlich bräuchten wir ein basisdemokratisches Wahlrecht wie – ich meine es ernst – in Bayern. Dort kann man Kandidaten, die der Partei nicht genehm und deswegen ganz hinten versteckt sind, mit einer Platzstimme belohnen. Interview: Franco Foraci