Als die Bilder lügen lernten

Nichts ist unmöglich. Aber noch lange nicht alles erlaubt. Im Zeitalter der digitalen Bildmontage kämpft der Fotograf um seine Bildrechte – und der Betrachter mit der Wahrhaftigkeit  ■ Von Tilman Baumgärtel

„Die Fotografie ist unwiderlegbar“, hat Kurt Tucholsky geschrieben. Jetzt wird er selbst widerlegt – von der digitalen Bildbearbeitung mit der Paint Box. Mit diesen Computerprogrammen kann man Fotografien fast beliebig bearbeiten, kombinieren und manipulieren. Was früher in mühevoller Retusche und selten wirklich überzeugend gelang, ist heute ohne große Schwierigkeiten am Computerbildschirm zu machen: Aus fröhlichen werden traurige Gesichter, störende Personen verschwinden aus dem Bild, und Menschen, die sich nie gesehen haben, sitzen plötzlich an einem Tisch.

Das Foto im Zeitalter seiner digitalen Manipulierbarkeit war das Thema einer Podiumsdiskussion, die die Journalisteninitiative „Media Watch“ in Köln organisiert hatte. Anläßlich der Photokina war der Hamburger Fotograf Günter Zint eingeladen worden, der zusammen mit der IG Medien und der VG Bildkunst seit zwei Jahren gegen den elektronischen Mißbrauch von Fotos kämpft.

Spezialisten für elektronischen Bilderbrei sitzen zum Beispiel in der Bildredaktion von Focus. Bei dem Münchner Blatt gibt es Illustrationen, die aus über 20 Fotos zusammengesetzt sind. Das wäre legitim, wenn die Urheber damit einverstanden wären und das Bild als manipuliert gekennzeichnet wäre. Aber das geschieht bisher in den seltensten Fällen. Was den Gewerkschaftsmann Zint besonders stört: Die Fotografen bekommen für den Gebrauch ihrer Bilder entweder gar kein Honorar oder werden mit symbolischen Summen abgespeist.

Auch Focus-Verlag Burda zahlt den Fotografen, deren Bilder für Collagen verwendet werden, nur einen Teilbetrag vom gesamten Honorar – obwohl das Bild genau soviel Arbeit gemacht hat wie ein Foto, das unbearbeitet veröffentlicht wird. „Das ist dann“, so Zint, „als ob Diebe und Einbrecher straffrei ihrer Tätigkeit nachgehen können, nur weil moderneres Einbruchwerkzeug auf den Markt gekommen ist.“ Abhilfe soll nun eine „Bilder-Gema“ schaffen, die die IG Medien gründen will.

Doch die Bezahlung der Fotografen ist nur eine der rechtlichen Fragen, die die elektronische Bildbearbeitung aufwirft. Oft werden Fotos in einer Weise verändert, die der Intention von Fotografen, die sich als „Autoren“ ihrer Werke verstehen, widerspricht. Im April 1992 beispielsweise war auf dem Titelbild des Spiegel unter der Dachzeile „Asyl – Die Politiker versagen“ eine endlose Menge von „ausländisch“ aussehenden Männern zu sehen, die sich durch ein Eisentor zwängten. Im Vordergrund sah man einen Beamten des Bundesgrenzschutzes, der die Menge zurückzudrängen versucht. Dasselbe Bild war einige Monate vorher schon einmal zur Bebilderung eines Artikels verwendet worden – der Polizist im Vordergrund fehlte allerdings: Er war aus einem anderen Foto hinzugefügt worden. Ein Hinweis auf die elektronische Bearbeitung der Aufnahme fehlte allerdings. Die Aussage des gefälschten Bildes war klar und sollte in den folgenden Monaten zum politischen Mythos hochstilisiert werden: Unkontrolliert drängen die Asylantenmassen nach Deutschland; die Politik und die Polizei stehen dem Ansturm machtlos gegenüber.

Solche visuellen Betrügereien verstoßen auch gegen das Urhebergesetz. In dessen Paragraph 14 heißt es: „Der Urheber hat das Recht, eine Entstellung oder eine andere Beeinträchtigung seines Werkes zu verbieten, die geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk zu gefährden.“ Doch die wenigsten Fotografen wehren sich gegen die Entstellung ihrer Bilder – zu sehr hängen sie wirtschaftlich von den Verlagen ab. Aber auch die Persönlichkeitsrechte der Fotografierten werden verletzt, wenn ihr Bild in einen anderen Kontext gerückt wird, wie die Kölner Fotografin Cordelia Dilg bei der Podiumsdiskussion betonte.

Die Vorstellung, daß ein Foto eine authentische Wiedergabe der Realität bietet, muß angesichts der digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten auf jeden Fall ad acta gelegt werden. Die Paint Box liefert Wirklichkeiten nach Wunsch.

Zwar waren Bearbeitungen und Verfälschungen von Fotos schon immer möglich und üblich, und Diktatoren, Stalin zum Beispiel, haben davon gerne Gebrauch gemacht, um in Ungnade gefallene Konkurrenten wie Trotzki aus historischen Fotos verschwinden zu lassen. Doch erst die elektronische Manipulation macht es möglich, Bilder vollkommen überzeugend und unsichtbar zu verändern. Daher werden Fotografien vor Gericht heute nicht mehr als Beweismittel akzeptiert, weil selbst Negative per Computer so perfekt manipuliert werden können, daß auch Fachleute die Fälschung nicht erkennen können.

Weil sie keine digitale Vermanschung ihrer Bilder wollen, hat sich eine Reihe von FotografInnen im vergangenen Jahr in Hamburg im DokumentarfotografInnen-Verband DOK zusammengeschlossen. Durch das Kürzel DOK im Urhebervermerk soll der Betrachter wissen, daß dieses Foto nicht elektronisch manipuliert wurde. „Was die Biobauern in der Landwirtschaft sind“, so Günter Zint in seinem Vortrag, „sind die DOK-FotografInnen in den Medien.“

In Zukunft wird die elektronische Verfälschung von Fotos sogar noch einfacher werden. Bei der Photokina wurden in diesem Jahr die ersten Computerkameras vorgestellt, die weniger als 1.500 Mark kosten. Bald wird jeder Bildjournalist mit einem Fotoapparat ausgestattet sein, der seine Aufnahmen auf einem Silikon-Chip speichert. Die Fotoreporter übermitteln ihre Bilder gleich in den Redaktionscomputer, wo sie entwickelt, nachbearbeitet und ins Layout eingefügt werden können. Manfred Wegner, Bildredakteur bei der Kölner Stadtrevue, glaubt darum, daß wir Fotos in Zukunft mit anderen Augen sehen müssen: Statt einer authentischen Darstellung von Wirklichkeit werden sie als symbolische Allegorien betrachtet werden. Ganz so weit sind wir bislang noch nicht: Der Computerfinisher, der dem Titelmodell des neuen Otto-Katalogs, Cindy Crawford, ihre berühmte Warze über dem Mundwinkel entfernt hatte, mußte seine Computerretusche wieder rückgängig machen.