Keine Philosophie dahinter

■ Und doch haben sich mit Softjazzer Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble zweifellos so zwei gefunden. Ensemble-Mitglied David James über das Projekt

Puristen waren sie noch nie. Jetzt allerdings ist das britische Hilliard Ensemble, das die Freunde der Frühen Musik schon durch Kooperationen mit Arvo Pärt, Gavin Bryars und Heinz Holliger verstört hat, noch einen Schritt weitergegangen: eine Vokalplatte mit Softjazzer Jan Garbarek am Saxophon.

taz: Ihre Kooperation mit Garbarek hat für viel Furore gesorgt. Wie geht das für Sie selbst zusammen: Frühe Musik und moderner Jazz?

James: Beide Musikstile kennen Formen der Improvisation, das heißt, obwohl heute niemand sagen kann, wie mittelalterliche Musik geklungen hat, kann man doch davon ausgehen, daß sie Elemente der Improvisation besaß. Unsere offene und flexible Haltung half uns bei der Arbeit mit Jan Garbarek. Wir mußten versuchen, uns von den Noten zu lösen, der Musik so Leben einzuhauchen, damit sie abhebt – was hoffentlich Jan Garbarek inspirierte. Im Vorfeld gab es keinerlei Absprachen. Er kannte nicht einmal die Musik, die wir mitbrachten. Wir trafen uns im Kloster St. Gerold in Österreich. Wir hatten kein Konzept, keine Strategie – nichts. Nur etliche Stücke, von denen wir vermuteten, daß sie vielleicht geeignet wären. Dann machten wir Vorschläge und sangen einzelne Titel durch, und Jan Garbarek hörte zu, und wenn er den Augenblick für gekommen hielt, stieg er ein und improvisierte darüber. Ich könnte mir vorstellen, daß so die Musizierpraxis in der ganz frühen Phase der mittelalterlichen Musik ausgesehen hat, als noch nichts niedergeschrieben war. Die Mönche in den Klöstern haben vielleicht so musiziert. Es gab wohl eine Grundmelodie, die dann umsungen wurde und ausgeschmückt. Garbarek tat nichts anderes. Zwei Monate später haben wir uns am selben Ort noch einmal getroffen und die Platte aufgenommen. Und wieder haben wir nichts vorher abgesprochen. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Jedes Stück haben wir vielleicht dreimal gesungen und er dazu improvisiert, jedesmal anders. Die gelungenste Version haben wir dann für die Platte ausgewählt.

Dann haben Sie ein Tabu der „Early Music“-Szene verletzt: das Dogma der Authentizität. Trifft das Hilliard Ensemble jetzt der Bann?

Das würde uns nichts ausmachen. Wir befanden uns schon immer in einer schwierigen Position zwischen den Stühlen – weil wir nie eine reine Frühe-Musik-Gruppe waren. Das hat uns in den Augen der Puristen verdächtig gemacht. Auch weil wir nicht daran glauben, daß es einen einzig richtigen Weg gibt, wie eine bestimmte Musik aufzuführen ist. Es gibt viel zu viele Leute, die alle ihre eigenen kleinen Theorien haben und dann entscheiden, was richtig und was falsch ist. Das ist doch das Aufregende, an Früher Musik zu erleben, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen verschiedene Künstler bei der Interpretation ein und desselben Stücks gelangen. Und jede Version ist akzeptabel. Das Wort „Authentizität“ ist ein schreckliches Wort, das ins Vokabular der Alten Musik eingegangen ist und dort nur Schaden angerichtet hat. Für Barockmusik mag der Begriff eine gewisse Berechtigung haben, für die Epochen davor nicht. Man weiß einfach zuwenig über die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Und folglich kann es die richtige Art und Weise, diese Musik zu spielen, gar nicht geben. Wir können im Gegenteil die Kompositionen von Perotin, Morales oder de la Rue nur so aufführen, wie wir meinen, daß es ihnen am besten entspricht. Mit der Platte mit Garbarek wollten wir nichts beweisen. Es gibt keine Philosophie dahinter. Es war einfach eine musikalische Erfahrung für uns – ein Experiment. Wenn Guillaume Dufay im 15. Jahrhundert ein Saxophon zur Verfügung gehabt hätte, hätten ihm unsere Interpretationen seiner Stücke wahrscheinlich gefallen, weil das Saxophon der menschlichen Stimme recht nahe kommt. Das Instrument verwandelte sich in eine fünfte Stimme. Und Jan Garbareks Improvisationen zerstören die Musik nicht, im Gegenteil: ihre Schönheit tritt durch sein Spiel nur noch deutlicher zutage.

Die Platte, das kann man schon jetzt sagen, entwickelt sich zu einem Bestseller der Klassik-Charts. Wie erklären Sie sich den enormen Zuspruch? Was fasziniert die Leute an dieser Musik?

Ich glaube, daß das Interesse an spiritueller Musik insgesamt zunimmt. Geistliche Musik der Renaissance, Arvo Pärt, Gorecki oder John Taverner – das alles gehört in dieselbe Kategorie. Die Platte der spanischen Mönche ist ein weiteres Beispiel. Sie hat sich weltweit millionenfach verkauft. All das zeigt, daß immer mehr Menschen auf der Suche nach etwas sind, nach etwas, was sich nicht so leicht beschreiben läßt. Nur soviel: Mit der allgemeinen Hetze hat diese Musik nichts zu tun. Schlagartig befindet man sich in einem zeitlosen Raum. Man sitzt nur noch da und hört zu, und auf einmal wird einem klar, daß es da noch etwas anderes gibt.

Interview: Christoph Wagner

Platte: Jan Garbarek/The Hilliard Ensemble: „Officium“. ECM New Series 1525 445369 (CD/MC).

Konzert: Köln (St. Maria), 16. Oktober, 21 Uhr.