Heroin unterm Klorand versteckt

■ Das alte Elend: Bremer Knackies riskieren Aids und Hepatitis beim Needle-Sharing – Spritzenautomaten in weiter Ferne / Die Schweiz ist weiter

„Du kannst heute in Oslebs zu jeder Zeit etwas kaufen, es ist kontinuierlich Heroin da; das Heroin kostet inzwischen nur noch 20 DM pro Päckchen, weil es auch draußen billiger geworden ist“, erzählt Martin. Er ist seit 18 Jahren drogenabhängig, rund acht Jahre saß er in norddeutschen Gefängnissen, auch in Bremen-Oslebshausen. Viel schwieriger als Heroin lassen sich Spritzen in den Knast schmuggeln. Immer nur wenige, meist schon stumpfe Bestecke sind in Umlauf. Nicht zuletzt, weil kein Gefangener Ausgangsperren riskieren will, sollte bei einer Zellenrazzia eine Spritze gefunden werden. Nach Gebrauch spülen die Gefangenen die gemeinsame Spritze mit Wasser kurz aus oder warten ein paar Minuten in der Hoffnung, daß währenddessen mögliche HIV-Viren oder Hepatitis-Erreger absterben. Anschließend wird die Spritze zum Beispiel unter dem Klorand versteckt. Martin, mittlerweile auf Polamidon, ist heute positiv. Er vermutet, daß er sich beim Needle-Sharing angesteckt hat.

Selbst JustizministerInnen leugnen heute nicht mehr: In deutschen Knästen gibt es trotz strengster Kontrollen Heroin. Für viele Gefangene, besonders die jungen, ist die Drogenfreiheit eine unrealistische Forderung. Etwa 150 der 400 Gefangenen in Oslebshausen sind drogenabhängig, so die Schätzung eines neuen Buches über „Infektionsprophylaxe im Strafvollzug“. Wieviele dieer 150 Abhängigen HIV-infiziert sind, weiß man nicht. Der HIV-Test ist in Bremen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes freiwillig. In Berlin sollen von 2.000 Häftlingen im geschlossenen Vollzug 300 HIV-positiv sein.

Letztlich ist es völlig gleichgültig, wieviele Gefangene positiv sind, sagt Heino Stöver vom Bremer Verein für akzeptierende Drogenarbeit/Kommunale Drogenpolitik. Entscheidend sei, daß das Virus im Knast ist und daß sich die Gefangenen nicht davor schützen können, jedenfalls nicht so schützen wie draußen, wo sie sterile Spritzen über Apotheken, Automaten oder Beratungsstellen bekommen können.

Mit spektakulären „Throw-Ins“ von Spritzen über die Oslebshausener Anstaltsmauer versuchten Bremer Drogenhilfeeinrichtungen mehrmals, öffentlichen Druck auf den Bremer Senat zu machen. Seit 1988 fordern Heino Stöver und andere Bremer Fachleute in zahllosen offenen Briefen die Abgabe von sterilen Spritzen im Knast. Doch in Bremen bewege sich nichts, so ihr Eindruck. Zwar wollte Gesundheitssenatorin Irmgard Gaertner, geht das Gerücht, jüngst in einer Presseerklärung für Spritzen im Knast plädieren, doch der Senatssprecher habe die Erklärung gestoppt. Schließlich gebe es auch andere Meinungen im Senat. Zum Beispiel die von Justizsenator Henning Scherf. Der ist zum Beispiel als der Methadongegner in Deutschland bekanntgeworden.

Dabei hat das geänderte Betäubungsmittelgesetz 1992 die Abgabe von Spritzen generell erlaubt. Und mit jedem bekanntgewordenen Aidstoten im Knast wird der Druck auf deutsche Justizverwaltungen größer. Vor einem Jahr nun hat Scherf einen Arbeitskreis zum Thema Infektionsprophylaxe im Knast gegründet. „Aber so ein Arbeitskreis ist auch eine Art von Verschleppungstaktik“, sagt Heino Stöver. Im November wird der Arbeitskreis seine Erkenntnisse der Justizdeputation vorlegen.

In der Schweiz sind die Justizverwaltungen offenbar mutiger: In einer Frauenhaftanstalt bei Bern läuft seit Mai ein Spitzentauschprogramm. Auf jeder der sechs Stationen hängt ein Spritzenautomat, dezent angebracht zum Beispiel auf der Toilette, rund um die Uhr zugänglich. Die Fachleute hoffen, daß dieser wissenschaftlich begleitete Versuch die Befürchtungen widerlegen wird, daß die Spritzenabgabe erst recht zum Drogenkonsum verleitet und daß Spritzen als Waffen gegen Bedienstete mißbraucht werden könnten... Drogen sind trotzdem auch in Bern verboten. Sie werden bei Razzien weiterhin konfisziert. Die Spritzenabgabe soll nicht als Signal für einen tolerierten Drogengebrauch mißverstanden werden.

Das Berner Projekt ist weltweit das erste offizielle Spritzentauschprojekt. Während der Debatte um das Projekt kam allerdings heraus, daß der Anstaltsarzt eines kleinen Gefängnisses bei Solothurn schon lange Spritzen abgibt: im Rahmen seiner Therapiefreiheit. Um einen Riesenskandal zu vermeiden, akzeptierte die Anstaltsleitung diese Praktik nachträglich. In Deutschland scheint Schleswig-Holstein am aufgeschlossensten: Dort überlegt man, beeindruckt vom Berner Beispiel, ebenfalls ein Modellprojekt zu starten, möglicherweise ebenfalls zunächst in einer Frauenhaftanstalt. cis

Eine Übersicht über den Stand der Diskussion gibt das Buch „Infektionsprophylaxe im Strafvollzug“, hrsg. von Heino Stöver, Verlag der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.