Ein Nobody im Club der Kakerlaken Von Ralf Sotscheck

Die Holztreppe sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Sie führt in den ersten Stock eines edwardianischen Gebäudes in Soho. Dort oben liegt der Colony Club, einer jener legendären Trinkklubs der Londoner Boheme. Das Treppengeländer und die Wände sind krankenhausgrün gestrichen. Auf halber Treppe befindet sich das Herrenklo, das fest in der Hand von Kakerlaken ist. Ich will umdrehen, doch Uwe Westphal, der Sekretär des deutschsprachigen PEN-Zentrums in London, treibt mich weiter.

Der Raum ist höchstens 20 Quadratmeter groß. An den Wänden, die im selben Grünton wie die Treppe gehalten sind, hängen alte Fotos, vergilbte Plakate und eine Federboa. Uns schlägt der Geruch von englischem Bier, Holzbohlen und abgestandenem Tabakrauch entgegen. Die Decke hängt in der Mitte durch. Der Boden ist in mehreren Lagen mit abgewetzten Teppichen bedeckt, auf denen höchstwahrscheinlich schon Muriel Belcher herumspaziert ist. Sie hatte den Colony Club nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um Londons Exzentrikern eine Heimat zu geben. Damals ging es nämlich in Soho sehr gesittet zu, die Pubs waren am Nachmittag geschlossen, und bizarres Benehmen auf der Straße wurde nicht geduldet. Muriel Belcher starb 1979, ihre Handtasche hängt heute hinter dem Tresen – neben den Fotos der ehemaligen Stammgäste Francis Bacon, Tom Driberg und Dylan Thomas.

Nach Belchers Tod übernahm ihr Barkeeper Ian Board den Laden, ohne etwas daran zu verändern. Board war in ganz Soho wegen seiner riesigen, purpurroten Knollennase bekannt. Obwohl die Kneipen inzwischen nachmittags geöffnet und Exzentriker in Soho eher die Regel denn die Ausnahme sind, hat der Colony Club überlebt – und nicht nur das: Neue Trinkklubs schießen im Zentrum Londons wie Pilze aus dem Boden. Gegenüber hat Black's Club eröffnet, dessen Besitzer Tom Bantock aus dem benachbarten Groucho Club geworfen wurde, weil er ein anderes Clubmitglied angezündet hatte. Um die Ecke liegt Green Street, dessen Gründer Orlando Campbell seine Zeit als Baby im Colony Club verbrachte, während sein Vater arbeiten ging. „Die Clubs sind deshalb so beliebt, weil die Leute dort ihresgleichen treffen“, meint Westphal und fügt gehässig hinzu: „Andere Fossilien.“

Ian Board starb Ende Juni. Im Tod soll seine Nase auf Normalgröße geschrumpft sein. Der neue Barkeeper Michael Wojas sieht aus, als sei er geradewegs von einem Kinks-Konzert im Jahre 1966 in den Colony Club gekommen. Als er uns sieht, macht er ein unglückliches Gesicht. Der Mann und die beiden Frauen am Tresen wenden neugierig den Kopf, sämtliche Gespräche verstummen. Westphal versucht, zwei Biere zu bestellen. „Nein, nein, nein“, ruft der Barkeeper entsetzt, „das ist ein Privatclub.“ Und wie kann man Mitglied werden? „Gar nicht“, brummt er und zeigt zur grünen Tür. Und wenn wir auf ein Bier blieben – auf Probezeit? „Hinaus!“ brüllt er aufgebracht und macht eine Handbewegung, als ob er Kakerlaken verscheucht. Unser Besuch im berühmten Colony Club ist nach knapp anderthalb Minuten vorbei. Der englische Journalist Peter Hillmore hatte einmal geschrieben, daß dort jeder Mitglied werden könne – außer einem Nobody.